Über das Scheitern in der Beratung
2. Dezember 2014 von Dirk Jung
In der Beratungsbranche wird ungern über das Scheitern gesprochen. Noch viel weniger schreibt man darüber. Wer Literatur über gescheiterte Beratungsprozesse sucht, findet – nichts. Das ist kein Zufall.
Wenn wir hier vom Scheitern in der Beratung sprechen, dann meinen wir nicht das Auf- und Ab schwieriger Beratungsprozesse. Nein, wir meinen das krachende Scheitern, das komplette Versemmeln, den Abbruch der Beziehung, die Verweigerung der Schlusszahlung. Wir meinen aber auch das stille Scheitern. Wenn man meint, alles richtig gemacht haben, und trotzdem hat sich nichts verändert. Wir verlassen das Kundensystem im Zustand schulterklopfender Euphorie und Zuversicht und stellen ein Jahr später bei einem Besuch fest, dass alles beim Alten geblieben ist. Oder Kunden und Berater schleichen sich verschämt davon, weil man sich nichts mehr zu sagen hat und keiner es offen aussprechen will. Wie also geht man professionell mit dem Scheitern der eigenen Beratungsarbeit um?
“Scheitern steht für einen Schiffsunfall, bei dem das Schiff zerschellt (im Unterschied zum unversehrten Stranden).” (Wikipedia, Begriff „Scheitern“)
Schuld sind immer die Kunden?
2010 untersuchte die Schweizer Beratungsfirma Cardea AG rund 100 Beratungsprojekte aus den Bereichen Wachstum und Kostensenkung, von denen ein Drittel gescheitert war. Als Ergebnis ihrer Analyse nennen die Berater fünf Faktoren, die angeblich zu 93% für Erfolg oder Misserfolg eines Projektes verantwortlich sind.
- 21% der Projekte scheitern an unklaren Erwartungen der Auftraggeber,
- 19% an schlechtem Projektmanagement,
- 18% an mangelndem Commitment der Kunden,
- 17% an Ungereimtheiten im Team und
- 17% an schlechter Auswahl und Steuerung von Beratern.
Man muss schon sehr genau hinschauen, um hinter dieser Analyse den Beitrag der Beratenden zu entdecken. Formulieren wir doch einmal den ersten, dritten und letzten Faktor etwas um – und schon sieht die Sache ganz anders aus:
- Unzureichende Kontext- und Auftragsklärung durch die Beratenden.
- Die Berater setzen den Change Prozess stellvertretend für die Kunden um, ohne deren notwendige Eigenleistung zu definieren und einzufordern.
- Die Beratenden haben sich auf Aufträge beworben, für die sie nicht ausreichend qualifiziert sind und/oder haben es versäumt, eine aktive und präzise Prozesssteuerung durch ihre Klienten zu gewährleisten.
Hier wird deutlich: Selbst bei dem Versuch einer objektiven Analyse durch eine professionelle Beratungsfirma ist die Optik merkwürdig schief, wenn es um den Anteil der Beratenden am Scheitern von Veränderungsprojekten geht.
Auf dem Weg zu einem ehrlicheren und damit produktiveren Umgang mit eigenen Beratungsfehlern gilt es nach unserer Erfahrung zunächst drei Hürden zu überwinden.
Erste Hürde: Die Emotion
Viele Buchautoren empfehlen Führungskräften und solchen, die es werden wollen, öfter und produktiver zu scheitern (z.B. Scheucher/Steindorfer: Die Kraft des Scheiterns, Graz 2008). Die Kernbotschaft lautet dabei, dass Scheitern eine ganz tolle Gelegenheit zum Lernen ist, und man deshalb als Individuum und Organisation eine positive Fehlerkultur entwickeln soll. Diese Autoren müssten sich also freuen wie Bolle, wenn kein Mensch ihr Buch kauft oder es von den Kritikern öffentlich verrissen wird. Oder deutlicher gesagt: Sie verschweigen den emotionalen Anteil bei diesem Thema. Zu scheitern fühlt sich nämlich ziemlich verletzend und frustrierend an – sei es, weil Beratende vom ethischen Grundsatz Edgar Schein’s „Versuche stets zu helfen!“ geleitet sind (vgl.: Schein, Edgar H., 2010: Prozessberatung für die Organisation der Zukunft. S. 298) und es ist ihnen nicht gelungen ist, sei es, weil Berater/innen dazu neigen, etwas eitler zu sein als der Durchschnitt.
Vor der intellektuellen Verarbeitung einer gescheiterten Beratung und der Entwicklung einer positiven Fehlerkultur stehen also zunächst der Kontakt zum eigenen Gefühl und das Eingeständnis, dass es weh tut. Wer diesen Schritt nicht schafft, der schmälert seine Chancen auf eine offene fachliche Verarbeitung erheblich. Das Beratungswissen bietet zu allem Überfluss eine ganze Reihe von Möglichkeiten, das eigene Scheitern intellektuell wegzudrücken, so dass man sich gar nicht erst mit diesem Gefühl auseinandersetzen muss. Der systemische Beratungsansatz ist besonders virtuos darin, Fehlschläge schmerzfrei zu erklären – und damit kommt die zweite Hürde ins Spiel…
Zweite Hürde: Die systemische Ausrede
„Man scheitert immer gemeinsam.“
Michael Möller
Der Frankfurter Paartherapeut Michael Möller prägte den Satz „Man scheitert immer gemeinsam“ zwar in Bezug auf Liebesbeziehungen, er trifft aber auch auf die Berater-Kunden-Beziehung zu. In der Tatsache, dass dieser Satz klug und richtig ist, liegt zugleich die Zuordnungsfalle für gescheiterte Beratungen. Sie verbaut nämlich die Sicht auf eigene handwerkliche Fehler und bietet ein breites Repertoire von fachlich abgefederten Ausflüchten. Hier eine kleine Auswahl:
- „Die Kund*innen leisten starken Widerstand gegen meine Interventionsversuche. Das ist gesund und normal in Veränderungsprozessen und zeigt nur, dass ich die richtigen und wunden Punkte getroffen habe.“
- „Die Chemie zwischen uns hat einfach nicht gestimmt.“
- „Die Kund*innen projizieren ihre Veränderungsängste auf mich, damit sie selbst keine Verantwortung übernehmen müssen.“
- „Man kann als Beratende*r die Komplexität des Klientensystems ja nie ganz durchschauen.“
- „Da haben noch andere Prozesse interveniert, auf die ich keinen Einfluss hatte.“
- „It takes two to tango!“
Das Verführerische dabei: All diese Behauptungen können zutreffend sein – sie können aber auch den Blick auf den eigenen Anteil am Scheitern verstellen.
Dritte Hürde: Der Frosch im heißen Wasser
Es ist eine Forschungslegende: Die Mär vom im warmem Wasser schwimmenden Frosch, dessen Fluchtreflexe ausbleiben, wenn man die Wassertemperatur langsam Grad um Grad erhöht, und der deshalb stirbt, obwohl er aus dem heißen Topf hätte herausspringen können.
Die Geschichte kann hier als Metapher für ein typisches Beratungsszenario dienen: Nur in den seltensten Fällen kündigt sich das Scheitern einer Beratung nämlich mit Paukenschlag, Knall und anderem Getöse an, so dass bei Beratern und Kunden die Alarmglocken klingen und alle Signale auf Halt gestellt werden können. Vielmehr häufen sich ganz langsam die schiefen Töne, Besprechungen werden verschoben, Konzepte nur halb gelesen, immer weniger Fragen werden gestellt, wichtige Entscheidungsträger lassen sich entschuldigen, neue Themen genießen plötzlich Priorität. Haltelinien und Soll-Bruchstellen werden ignoriert, nicht zuletzt, weil man sie gar nicht erst definiert hatte. Für Beratende und Klienten ist es in einer solchen Situation eine große Versuchung, lieber halbherzig weiter zu machen als sich in den belastenden Prozess eines begründeten Abbruchs zu begeben.
Wie funktioniert die beraterische Selbstreflektion?
Wenn sich das Gefühl zur Gewissheit verdichtet, dass im Beratungsprozess etwas gründlich schief gegangen ist, kommt der Moment der professionellen Selbstreflektion – oder besser noch – Reflektion gemeinsam mit den Kunden. Nachfolgend bieten wir hierzu fünf bewährte Einstiegsthemen an, um einen Reflektionsprozess zu beginnen:
Einfädelung
Albert Einstein soll einmal gesagt haben: „Wenn man den ersten Knopf der Weste falsch einknöpft, bekommt man den letzten nie richtig zu.“ Was ist beim Einfädeln des Prozesses schief gegangen? Was oder wen habe ich vergessen, übersehen oder überbetont? Oft spiegelt sich in Anfangssituationen der gesamte spätere Prozess wieder – was hätte ich da schon erkennen können?
Bauchgefühl
Der Zugang zur eigenen Intuition ist in der Beratung oft wichtiger als das Methodenwissen. Ab wann fühlte sich der Prozess für mich „komisch“ an? Was hat verhindert, dass ich dieses Gefühl bewusst wahrnehmen und darauf reagieren konnte?
Gabelungen
Viele Wege führen nach Rom – manche aber auch in Sackgassen. Wo waren im Beratungsprozess unsichtbare Weichen und Weggabelungen, die ich nicht erkannt und zu Kurskorrekturen genutzt habe? Woran hätte ich sie erkennen können?
Erfahrung
Viele Wege führen nach Rom – manche aber auch in Sackgassen. Wo waren im Beratungsprozess unsichtbare Weichen und Weggabelungen, die ich nicht erkannt und zu Kurskorrekturen genutzt habe? Woran hätte ich sie erkennen können?
Grenzen
Wo hat mich der Beratungsprozess an handwerkliche, emotionale oder energetische Grenzen geführt – und wie bin ich damit umgegangen? Welche Konsequenzen hatte das für den Beratungsprozess? Was hätte es vielleicht zusätzlich gebraucht? Wo hätte ich Rat und Unterstützung bekommen können? Warum habe ich sie mir nicht geholt?
Neun Ratschläge für den Umgang mit beraterischen Fehlern
Stellt sich schlussendlich die Frage: Was nun? Jetzt habe ich zurückgeschaut, über mich nachgedacht, meine Fehler (teilweise) erkannt. Wie gehe ich nun damit um?
Der bekannte Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Karl Popper hat 12 Prinzipien für Wissenschaftler aufgestellt, wie sie mit Fehlern und Irrtümern umgehen sollen (Karl R. Popper: „Auf der Suche nach einer besseren Welt“, München 1989). Nachfolgend haben wir diese Regeln ein wenig gekürzt und abgewandelt, und den Begriff „Wissenschaftler“ durch „Beratende“ ersetzt. Und schon wird ein interessanter Schuh daraus:
- Fehler werden dauernd von allen Beratenden gemacht. Die alte Idee, dass man Fehler vermeiden kann und daher verpflichtet ist, sie zu vermeiden, muss revidiert werden: Sie selbst ist fehlerhaft.
- Wir müssen deshalb unsere Einstellung zu unseren Fehlern ändern. Die alte berufsethische Einstellung führt dazu, unsere Fehler zu vertuschen, zu verheimlichen und so schnell wie möglich zu vergessen.
- Das neue Grundgesetz ist, dass wir, um zu lernen, gerade von unseren Fehlern lernen müssen. Fehler zu vertuschen ist deshalb die größte intellektuelle Sünde.
- Wir müssen daher dauernd nach unseren Fehlern Ausschau halten. Wenn wir sie finden, müssen wir sie uns einprägen; sie nach allen Seiten analysieren, um ihnen auf den Grund zu gehen.
- Die selbstkritische Haltung und die Aufrichtigkeit werden damit zur Pflicht.
- Da wir von unseren Fehlern lernen müssen, müssen wir auch lernen, anzunehmen, ja, dankbar anzunehmen, wenn andere uns auf unsere Fehler aufmerksam machen. Und wir sollen uns daran erinnern, dass auch die größten Berater Fehler gemacht haben.
- Wir müssen uns klarwerden, dass wir andere Menschen zur Entdeckung und Korrektur von Fehlern brauchen (und sie uns); insbesondere auch Menschen, die mit anderen Ideen in einer anderen Atmosphäre aufgewachsen sind. Auch das führt zur Toleranz.
- Wir müssen lernen, dass Selbstkritik die beste Kritik ist; dass aber die Kritik durch andere eine Notwendigkeit ist. Sie ist fast ebenso gut wie die Selbstkritik.
- Konstruktive Kritik muss immer spezifisch sein: Sie muss spezifische Gründe angegeben, warum spezifische Aussagen, spezifische Hypothesen falsch zu sein scheinen oder spezifische Argumente ungültig. Sie muss in diesem Sinne unpersönlich sein.
„Wer mit einem Finger auf andere zeigt …
… auf den zeigen drei Finger zurück“. So lautet ein altes chinesisches Sprichwort, das offenbar auch auf Beratende zutrifft. Was die Beratungsbranche so gern ihren Kunden predigt – nämlich Fehlerkultur, Selbstreflektion und Kritikfähigkeit – muss auch für die eigene Zunft gelten. Wir Beratende sollten nicht so tun, als sei es einfach und selbstverständlich, dem eigenen Scheitern ins Gesicht zu sehen