Gerhard Rich­ter und das Prin­zip der Unschärfe in der Bera­tung

6. August 2013 von denkmodell

Beson­ders in der Fach- und Exper­ten­be­ra­tung sind genaue Problem­ana­ly­sen, exakte Zustands­dia­gno­sen und präzise Lösungs­vor­schläge ange­sagt. Wer sich hinge­gen in eine Ausstel­lung des zeit­ge­nös­si­schen Malers Gerhard Rich­ter begibt, der findet mögli­cher­weise gute Gründe, warum gerade das Unscharfe, Unge­fähre und Grob­ge­ras­terte in vielen Bera­tungs­si­tua­tio­nen das Mittel der Wahl ist.

Zwei Zitate sollen hier­für heran­ge­zo­gen werden. Gerhard Rich­ter schreibt in seinen Noti­zen von 1964–1965: „Ich verwi­sche, damit alle Teile etwas inein­an­der­rü­cken. Ich wische viel­leicht auch das Zuviel an unwich­ti­ger Infor­ma­tio­nen aus.“ Ludwig Witt­gen­stein formu­liert in Philo­so­phi­sche Unter­su­chun­gen § 71: „Ist das unscharfe Bild nicht oft gerade das, was wir brau­chen?“

Der böse Blick der Bera­ten­den?

Seit dem Aufkom­men des natur­wis­sen­schaft­li­chen Denkens besteht der Wunsch nach genau­est­mög­li­cher Wahr­neh­mung der Welt.1 Lupen, Bril­len, Mikro­skope und Tele­skope sollen die natür­li­che Sehkraft verstär­ken und eine glas­klare Sicht auf die Dinge ermög­li­chen. Damit verbun­den ist der Wunsch, die sicht­bare Welt besser kontrol­lie­ren zu können. Der „scharfe Blick“ ist in fast jeder Kultur ein Synonym für Beherr­schung und Kontrolle, das „scharfe Mustern“ einer Person ist eine Herr­schafts­geste und eine Aggres­sion, wie sie zum Beispiel Poli­zis­ten im Verhör vorbe­hal­ten ist. Das „Fixie­ren“ war bis ins 19. Jahr­hun­dert hinein viel­fa­cher Auslö­ser für Duelle und die unse­lige Tradi­tion des „bösen Blicks“ war der Grund für zahl­rei­che mensch­li­che Tragö­dien.2

In der Bezie­hung zwischen Bera­ten­den und Klient*innen ist dieser „scharfe“ Blick beson­ders dann gefürch­tet, wenn er sich auf die Klient*innen selbst und seinen eige­nen Anteil an einer proble­ma­ti­schen Situa­tion rich­tet. Fast unaus­weich­lich mobi­li­siert das Klient*innensystem die Wider­stands- und Selbst­schutz­me­cha­nis­men bis hin zur Ableh­nung der Bera­ten­den. Aber es gibt Möglich­kei­ten, eine solche Blocka­de­si­tua­tion zu verhin­dern. Zum Beispiel versu­chen die im syste­mi­schen Bera­tungs­an­satz verwen­de­ten Frage­tech­ni­ken, genau diesen „bösen“ fixie­ren­den Blick zu vermei­den und statt­des­sen den Klient*innen dabei zu helfen, in einen Spie­gel zu schauen, in dem er nur sich selbst sehen kann – und nicht den Blick der Bera­ten­den. Dieser Grund­ge­danke der so genann­ten „syste­mi­schen Fragen“ lässt sich gut an den beiden Figu­ren Sher­lock Holmes und Colombo3 illus­trie­ren.

Während erste­rer den Verdäch­ti­gen mit einem Hagel von direk­ten „schar­fen“ Fragen in die Enge treibt („Wo waren Sie gestern zwischen acht Uhr und acht Uhr drei­ßig?“), fragt Inspek­tor Colombo so lange freund­lich, „naiv“ und indi­rekt, bis der*die Mörder*in von alleine zu dem Schluss kommt, dass er sich besser der Poli­zei stel­len sollte. Syste­mi­sche Fragen nehmen die Klient*innen geis­tig an der Hand und laden zu einem Spazier­gang im System ein. Ein Beispiel dafür sind so genannte „zirku­läre Fragen“, die den Klient*innen zu einem Perspek­tiv­wech­sel einla­den, zum Beispiel „Wenn ich Ihre Mitarbeiter*innen fragen würde, wie sie die Zusam­men­ar­beit zwischen Ihnen und Ihren Vorge­setz­ten wahr­neh­men, was würden sie vermut­lich antwor­ten?“ Am Rande noch eine maka­bre Pointe des Lebens: der Darstel­ler von Inspek­tor Colombo, Peter Falk, hatte tatsäch­lich ein Glas­auge, wodurch ihm das „Fixie­ren“ seiner Gegen­über ohne­hin nur schwer möglich gewe­sen wäre…

Unschärfe als Schutz

Das nach­ste­hende Bild von Gerhard Rich­ter basiert auf einem Foto von Leni Riefen­stahl und zeigt ein Begräb­nis­ri­tual der Nuba im Sudan. Bemer­kens­wert ist dabei unter ande­rem, dass Rich­ter die Bild­mitte beson­ders unscharf gezeich­net hat. Er begrün­dete diese Entschei­dung damit, dass er die Intim­sphäre der Gezeich­ne­ten, ihre Trauer, ihre Emotion und ihre Verletz­lich­keit vor dem Auge der Betrach­ten­den schüt­zen wollte.  

Gerhard Rich­ter – Neger (Nuba) / Negroes (Nuba), 1964 – 145 x 200 cm, Öl auf Lein­wand, Cour­tesy Gagos­ian Gallery

Auch Berater*innen müssen ihre Klient*innen schüt­zen. Sie müssen nicht alles ausspre­chen, was sie wahr­neh­men, nicht alles beschrei­ben, was geschieht, nicht jede Schwä­che ihres Klient*innensystems benen­nen. Berater*innen, die zum Beispiel eine Orga­ni­sa­ti­ons­dia­gnose durch­füh­ren, stoßen immer auf Themen und Zusam­men­hänge, die jenseits der unsicht­ba­ren Scham­grenze der Orga­ni­sa­tion liegen, die an berech­tigte Tabus rühren und Menschen bloß­stel­len können. Die profes­sio­nelle Heraus­for­de­rung besteht darin, diese Infor­ma­tio­nen in einer Form an die Orga­ni­sa­tion zurück­zu­spie­geln, bei der die Betei­lig­ten in diesen Spie­gel hinein­schauen mögen, ohne verletzt zu werden und deshalb offen blei­ben für notwen­dige Verän­de­rungs­im­pulse. Dies gelingt durch die rich­tige Mischung von genauer Beschrei­bung und geziel­ter „Unschärfe“ im Feed­back der Bera­ten­den.

Ein Beispiel aus unse­rer Praxis. Unser Auftrag lautete ursprüng­lich, ein Fort­bil­dungs­pro­gramm zu evalu­ie­ren. Hierzu führ­ten wir zahl­rei­che Gesprä­che mit den zustän­di­gen Mitarbeiter*innen der durch­füh­ren­den Insti­tu­tion. Zu unse­rer Über­ra­schung began­nen die meis­ten Gesprä­che mit dem Satz „Bitte schlie­ßen Sie erst einmal die Tür. Ich erzähle Ihnen jetzt nämlich etwas…“. Unge­wollt wurden wir zur „syste­mi­schen Müll­ab­fuhr“ und zu Hoff­nungs­trä­gern der Mitarbeiter*innen, die sich drin­gend eine Verän­de­rung in ihrer Führungs­kul­tur wünsch­ten. Die Frus­tra­tion konzen­trierte sich auf die Person der Geschäfts­füh­rung, der*die uns als chole­ri­sche, über­for­derte und bera­tungs­re­sis­tente Persön­lich­keit geschil­dert wurde.

Sympto­ma­tisch: Das Anbrül­len von Mitarbeiter*innenn im Leitungs­büro hatte zu Beschwer­den des Betriebs­rats geführt, worauf­hin die Führungs­kraft den Einbau einer Doppel­tür veran­lasst hatte…

Als Bera­tende in dieser Situa­tion öffent­lich den Finger auf die Wunde zu legen, die Führungs­kraft bloß­zu­stel­len oder gar zum „Problem“ zu dekla­rie­ren, hätte jegli­che Chance auf Verän­de­rung verspielt. In einer solchen Konstel­la­tion hilft der alte syste­mi­sche Leit­satz „Don’t blame the person, blame the system!“. In der Tat war das Verhal­ten der kriti­sier­ten Führungs­kraft nur möglich, weil es im System keine korri­gie­ren­den Mecha­nis­men gab. Die nach­ge­la­gerte Abtei­lungs­lei­tungs­ebene hatte sich in der Resi­gna­tion bequem einge­rich­tet, die nächst höhere Ebene war um Konflikt­ver­mei­dung bemüht und die Führungs­kraft selbst fühlte sich unver­stan­den, über­las­tet und allein gelas­sen. Unsere offi­zi­elle Diagnose spie­gelte also ein weiches, unschar­fes Bild der Orga­ni­sa­tion wider, das zwar die Drama­tik der Situa­tion erfasste, zugleich aber den Betei­lig­ten genü­gend Schutz vor Gesichts­ver­lust und Schuld­zu­wei­sung gewährte. Nur so blieb der Weg offen für erste vorsich­tige Verän­de­rungs­schritte.

Syste­mi­sche Igno­ranz – Erkennt­nis durch Vergrö­be­rung

Der Begriff der syste­mi­schen Igno­ranz ist in Google nicht zu finden und wird dennoch seit Jahren in der Bera­tung und im Manage­ment – zum Teil mit ironi­schem Unter­ton – verwen­det. Gemeint ist damit die Fähig­keit, unwe­sent­li­che Details auszu­blen­den und durch intui­ti­ves oder bewuss­tes Vergrö­bern das Wesent­li­che im Blick zu behal­ten. Zur Illus­tra­tion dieser Eigen­schaft ist das nach­fol­gende Raster­bild hilf­reich.
 Wer versucht, die Bedeu­tung dieses Bildes durch Auszäh­lung der klei­nen grauen Quadrate zu erfas­sen und dabei viel­leicht noch eine wissen­schaft­li­che Klas­si­fi­zie­rung der unter­schied­li­chen Grau­töne vornimmt, kommt nie zum Ziel. Um zu erken­nen, wen das Raster­bild darstellt, muss man die Augen so eng zusam­men­knei­fen, dass die Quadrate verschwim­men und inein­an­der flie­ßen. Dann erst erkennt man das Bild eines frühe­ren US-ameri­ka­ni­schen Präsi­den­ten. Bera­tende benö­ti­gen diesen „unschar­fen“ Blick, um das Wesen einer Orga­ni­sa­tion erken­nen zu können – jenseits von Umsatz­zah­len, Orga­ni­gram­men oder Bilan­zen.

Beson­ders in der Ausein­an­der­set­zung mit komple­xen Orga­ni­sa­ti­ons­sys­te­men gehört das intui­tive Bauch­ge­fühl eines*einer Beraters*in zu den wich­tigs­ten Instru­men­ten, um urteils- und entschei­dungs­fä­hig zu blei­ben. Der Leit­satz „Besser unge­fähr rich­tig als genau falsch“ gilt in hohem Maße auch für Manager*innen in Führungs­po­si­tio­nen, denen im tägli­chen Strom von klein­tei­li­gen Sach­in­for­ma­tio­nen droht, den Blick auf das Wesent­li­che zu verlie­ren. Diese Kunst des profes­sio­nel­len Igno­rie­rens hat unter dem Schlag­wort „intui­ti­ves Manage­ment“ Einzug in die Fach­li­te­ra­tur gehal­ten. Darun­ter versteht man gemein­hin einen „Manage­ment­stil, der Entschei­dun­gen aus dem Bauch heraus trifft und sich mehr auf den sechs­ten Sinn als auf die analy­ti­sche, objek­tive Vernunft verlässt.“ (onpul­son Wirt­schafts­le­xi­kon).

Fuzzy logic und soft control

Das 1994 erschie­nene Buch „Fuzzy Thin­king“ 4 von Bart Kosko kommt zunächst daher wie das Werk eines kali­for­ni­schen Spät­hip­pies: Ying-Yang Zeichen auf dem Umschlag und viele Zita­ten von buddhis­ti­schen und grie­chi­schen Philo­so­phen. Gleich­wohl löste es einen Inno­va­ti­ons­schub aus, der schon in den ersten Jahren nach seiner Veröf­fent­li­chung zu zehn­tau­sen­den neuer tech­ni­scher Patente führte. Worum geht es? Der wesent­li­che Ansatz­punkt des Buches und der daraus entwi­ckel­ten „fuzzy tech­no­logy“ beruht auf der Alltags­er­kennt­nis, dass die theo­re­tisch-mathe­ma­ti­sche Welt zwar zwischen rich­tig und falsch, schwarz und weiß unter­schei­den kann, sich die komple­xen Systeme der reale Welt aber eher entlang einer Skala unter­schied­li­cher Grau­töne verhal­ten, oft gespickt mit Wider­sprü­chen, Unge­wiss­hei­ten und Infor­ma­ti­ons­lü­cken.

Eine tech­ni­sche Heraus­for­de­rung besteht daher darin, Compu­tern die Kunst des unge­fähr Rich­ti­gen beizu­brin­gen, wenn sie etwa U‑Bahn Systeme steu­ern sollen, Ther­mo­state von Kühl­schrän­ken oder die Elek­tro­nik von Fahr­zeu­gen. Auch im Manage­ment komple­xer Prozesse und Systeme zeigt sich die Heraus­for­de­rung des „unge­fähr Rich­ti­gen“: Wie können wir steu­ern und entschei­den, ohne alle Fakten zu kennen oder in einer Flut von Daten zu ertrin­ken? Wie kann eine wirk­same Kontrolle von Abläu­fen erfol­gen, ohne die Orga­ni­sa­tion durch stän­dige Eingriffe zu para­ly­sie­ren oder ihr die notwen­dige Flexi­bi­li­tät zu rauben, um sich auf uner­war­tete Situa­tio­nen einzu­stel­len? Eine der mögli­chen Antwor­ten hier­auf wird mit dem Begriff „soft control“ umschrie­ben und ist für Manage­ment und Orga­ni­sa­ti­ons­be­ra­tung glei­cher­ma­ßen inter­es­sant. Ein zentra­ler Gedanke ist dabei die Steue­rung durch „Prin­zi­pien“ statt durch „Regeln“.

Wer versucht, ein Unter­neh­men durch ein komple­xes Regel­werk zu steu­ern, das die Farbe der Arbeits­klei­dung, den Zeilen­ab­stand in Geschäfts­brie­fen und die Formu­lar­größe bei Bestel­lun­gen fest­legt, muss schei­tern. Prin­zi­pien hinge­gen schaf­fen eine Basis für gemein­schaft­lich abge­stimm­tes Handeln in der Orga­ni­sa­tion, zum Beispiel „Quali­tät geht vor Geschwin­dig­keit“, „Der*die Kund*in hat immer recht“, „Führung heißt Vorbild sein“, etc.. Prin­zi­pien basie­ren auf gemein­sa­men Werten. Sie stif­ten Iden­ti­tät in der Orga­ni­sa­tion und geben zugleich dem*der Einzel­nen die notwen­di­gen Frei­heits­grade zu vernünf­ti­gen, situa­tiv ange­mes­se­nen Entschei­dun­gen. Kurz gesagt: Regeln sind zu befol­gen, Prin­zi­pien hinge­gen müssen inter­pre­tiert werden – das genau ist der Geist von „fuzzy thin­king“!

Kern­prä­gnant oder rand­scharf?

Diese Unter­schei­dung zwischen „kern­prä­gnant“ und „rand­scharf“ traf ursprüng­lich der Lingu­ist Georg Stei­ner in einem völlig ande­ren Zusam­men­hang, doch beschreibt sie treff­lich das Dilemma moder­ner Orga­ni­sa­tio­nen bei dem Versuch, ihre innere und äußere Iden­ti­tät zu bestim­men. Genügt eine „rand­scharfe“ Grenze, die durch Verträge, Rechts­for­men, Betriebs­uni­for­men, Logos, Flag­gen und Brief­pa­pier markiert ist? Oder geht es viel­mehr um den Kern des inne­ren Selbst einer Orga­ni­sa­tion?

Das klingt esote­risch, ist aber sehr konkret: Welches sind die Werte, der „Spirit“, der Stil und die Welt­an­schau­ung, die unver­wech­sel­bar in allen Produk­ten, Dienst­leis­tun­gen, Verhal­tens­wei­sen und Vorgän­gen erkenn­bar sind, egal wer der Ausfüh­rende ist und wie die Sache konkret aussieht? Kern­prä­gnante Orga­ni­sa­tio­nen brau­chen wenig Regeln, aber klare Prin­zi­pien – hier schließt sich der Kreis zum oben beschrie­be­nen „fuzzy thin­king“. Ist die Pira­ten­par­tei eine eher kern­prä­gnante oder eher rand­scharfe Orga­ni­sa­tion? Und woran erkennt man ein Apple Produkt? Orga­ni­sa­tio­nen, die sich ausschließ­lich durch Rand­schärfe defi­nie­ren, ähneln einer tauben Nuss:

Alle Ener­gie geht in die Aufrecht­erhal­tung der Schale, während der innere Kern verdorrt. Demhin­ge­gen haben kern­prä­gnante Orga­ni­sa­tio­nen die irri­tie­rende Eigen­schaft, sich in Netz­werke, Förder­ge­mein­schaf­ten, Clus­ter oder Facebook-Initia­ti­ven aufzu­fa­sern, die keine klare Grenze kennen und dies auch nicht anstre­ben. Viele neuere gesell­schaft­li­che Bewe­gun­gen defi­nie­ren sich zunächst durch einen „unsicht­ba­ren“ Kern von Glau­bens­sät­zen und Prin­zi­pien (wie die Occupy-Bewe­gung). Die Frage „Bist Du Mitglied oder nicht?“ ist nicht beant­wort­bar, die rich­tige Frage lautet hier: „Wie nah oder fern stehst Du zum Kern?“ Nicht selten besteht der Kern auch aus einem gemein­sa­men Projekt oder Produkt, zu dem die Betei­lig­ten in unter­schied­li­cher Form und Inten­si­tät beitra­gen.

Dieser Typ der „unschar­fen“ Orga­ni­sa­tion stellt Manager*innen und Organisationsberater*innen vor völlig andere Heraus­for­de­run­gen als eine Orga­ni­sa­tion mit genau defi­nier­ten Außen­gren­zen. Kern­prä­gnante Orga­ni­sa­tio­nen haben beson­dere Lebens­zy­klen, andere Wachs­tums­ge­setze und müssen spezi­fi­sche Bedro­hun­gen bewäl­ti­gen. Sie reprä­sen­tie­ren den Orga­ni­sa­ti­ons­typ des 21. Jahr­hun­derts, beflü­gelt durch virtu­elle soziale Netz­werke und tempo­räre, flexi­ble Formen der Zusam­men­ar­beit.

Der Blick in die Weite

Caspar David Fried­rich – Der Mönch am Meer, 1809 – 110 × 171,5 cm, Öl auf Lein­wand, Alte Natio­nal­gal­le­rie 

Als Caspar David Fried­rich das hier abge­bil­dete Gemälde „Mönch am Meer“ schuf, verwei­gerte er dem*der Betrachter*in – bis auf die Kontur der Düne – jegli­che Konkret­heit. Zwei Schiffe, die ursprüng­lich auf dem Meer zu sehen waren, wurden wieder über­malt, der Über­gang zwischen Himmel und Meer ist flie­ßend. Nichts soll den Blick des Betrach­ters in die Weite, in das Unge­fähre und Mögli­che behin­dern. Orga­ni­sa­ti­ons­be­ra­ter erstel­len solche Gemälde häufig zusam­men mit dem Klien­ten. Damit ist nicht unbe­dingt das physi­sche Malen mit Pinsel und Farbe gemeint (auch dies kann hilf­reich sein), sondern die geis­tige Befrei­ung vom Diktat des Fakti­schen, von Progno­sen, Markt­stu­dien und Trend­ana­ly­sen. Dabei müssen die Klient*innen nicht selten (meta­pho­risch gespro­chen) aus ihren Büros heraus­ge­zerrt und einsam auf die Düne gestellt werden, damit sie wieder in die Ferne schauen können.

Vor allem opera­tiv hoch­be­gabte Manager*innen tun sich schwer damit, die ange­nehme Konkret­heit des Tages­ge­schäfts hinter sich zu lassen und den Blick in die Weite zu rich­ten, wo vieles möglich, aber nichts sicher ist. Dabei helfen oft klas­si­sche Instru­mente der Bera­tung wie die Visi­ons­klau­sur, die Zukunfts­werk­statt oder eine ange­lei­tete Reise ins eigene Selbst.5 Nicht selten sind dras­ti­sche Mittel notwen­dig, damit die „Macher*innen“ ihre Rüstung abstrei­fen und sich unge­schützt der Zukunft stel­len. Dazu begab sich einer unse­rer Kund*innen aus der Auto­mo­bil­bran­che mit Führungs­kreis zunächst in eine Altklei­der­kam­mer des Roten Kreu­zes, wo sich alle Teil­neh­men­den „neu“ einklei­den muss­ten, um danach zusam­men das Wochen­ende in einem Klos­ter zu verbrin­gen…

Fazit: Worauf es beim „unschar­fen“ Bera­ten ankommt

Wir haben nun einige Situa­tio­nen kennen­ge­lernt, in denen sich Bera­tende und/oder ihre Klient*innensysteme aus guten Grün­den dem Anspruch entzie­hen, genau und präzise zu sein. Unsere Beispiele bezo­gen sich auf so unter­schied­li­che Themen wie Problem­dia­gno­sen und Feed­back, Orga­ni­sa­ti­ons­gren­zen, Steue­rungs- und Kontroll­me­cha­nis­men, Zukunfts­bil­der oder Infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tung. Was aber ist das diesen Beispie­len zu Grunde liegende Prin­zip? Kurz gesagt, es geht immer um den Schutz des Mögli­chen vor dem Fakti­schen, um das Span­nungs­feld von mach­bar und denk­bar. Nur so haben Entwick­lung und Verän­de­rung auf indi­vi­du­el­ler und orga­ni­sa­to­ri­scher Ebene eine Chance. Bei der Bera­tung und Beglei­tung von Verän­de­rungs­pro­zes­sen ist es genau diese Span­nung, aus denen Neues entsteht und Altes in Würde verab­schie­det werden kann.

1 Aus Grün­den der besse­ren Lesbar­keit verwen­den wir durch­gän­gig das so genannte gram­ma­ti­ka­li­sche Geschlecht – es schließt Männer und Frauen glei­cher­ma­ßen ein
2 Vgl.: Ullrich, W.: Die Geschichte der Unschärfe, Berlin 2002
3 Beliebte Fern­seh­se­rie der 70–80er Jahre mit Peter Falk in der Haupt­rolle
4 Fuzzy, engl, bedeu­tet: verschwom­men, unscharf, flockig
5 Zum Beispiel die z.Zt. en vogue befind­li­che „Theo­rie U“ nach Otto Schar­mer, vgl. www.presencing.com