Ein Kunst­ort auf dem Weg in die agile Orga­ni­sa­tion – unsere Erfah­rung mit dem Sozio­kra­tie-Ansatz

21. Januar 2021 von Desiree Bösemüller
Wasser­ate­lier des Lehni­ner Insti­tuts für Kunst und Kultur

Wir bei denk­mo­dell kennen das Lehni­ner Insti­tut für Kunst und Kultur und das dazu­ge­hö­rige Gäste­haus seit vielen Jahren. Wir verbrin­gen an diesem beson­de­ren Ort häufig unsere inter­nen Team­tage und sind immer wieder im Rahmen unse­rer Ausbil­dung Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung & Bera­tung dort. Zwischen 2018 und 2020 beglei­te­ten wir das LIKK dann auch bera­tend: Gesucht wurde eine externe Beglei­tung bei der stra­te­gi­schen Aus- und Neuge­stal­tung sowie für die Unter­stüt­zung von Team­zu­sam­men­ar­beit und Führung. Alles sollte selbst­ver­ant­wort­li­cher werden.

Der Ansatz: Sozio­kra­tie

2018 über­nahm Dr. Marius Haber­land die Geschäfts­füh­rung von  GmbH und Verein. Er wollte für die zwei Orga­ni­sa­tio­nen – den Verein einer­seits und das Gäste­haus ande­rer­seits – einen Rahmen schaf­fen. Gleich­zei­tig musste es ihm gelin­gen, selbst den Über­blick zu behal­ten. Konkret wollte er eine Orga­ni­sa­tion entste­hen lassen, die sich selbst befä­higt und entwi­ckelt.

Marius kannte sich bereits mit der Orga­ni­sa­ti­ons­form der Sozio­kra­tie aus, die auf geteilte Verant­wor­tung setzt und von der Gleich­wer­tig­keit der Betei­lig­ten ausgeht. Schnell führte er daher erste sozio­kra­ti­sche Elemente in die gemein­same Arbeit ein. Zum Beispiel

  • entwi­ckelte er mit den Betei­lig­ten ein Kreis­mo­dell. Ein Kreis ist im groben Verständ­nis eine eigen­stän­dig arbei­tende Gruppe von Menschen mit einem gemein­sa­men Ziel. Diese Gruppe kann inner­halb ihrer Zustän­dig­kei­ten auto­nom Entschei­dun­gen tref­fen. Es gibt mehrere Kreise, wobei die einzel­nen Kreise über bestimmte Rollen doppelt mitein­an­der verknüpft sind.
  • führte er das Konsent­prin­zip ein. Beim Konsent gilt eine Entschei­dung dann, wenn von den Betei­lig­ten niemand einen schwer­wie­gen­den und argu­men­tier­ten Einwand gegen den zu fassen­den Beschluss hat. Es ist also ein Gegen­stück zum Konsens.

Es zeigte sich: Eine Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung in diesem Umfang benö­tigt einen Refle­xi­ons­raum. Externe Unter­stüt­zung in Form von Bera­tung sollte her. Auch, weil es im Team den Bedarf gab, den über viele Jahre gewach­se­nen Ange­bote des LIKK eine gemein­same Vision zu geben und moti­vier­ter und klarer neue Akteur*innen der Region für die Arbeit zu begeis­tern. Marius bean­tragte daher eine Förde­rung für Orga­ni­sa­ti­ons­be­ra­tung im Programm unternehmensWert:Mensch und stol­perte über den Namen „denkmodell“.30

Start in die Zusam­men­ar­beit: Auftrags­klä­rung und Prozess­pla­nung

Wir star­te­ten mit einem ausführ­li­che Auftrags­klä­rungs­ge­spräch und erfuh­ren in etwa zwei Stun­den eini­ges über Die Histo­rie des Vereins – beispiels­weise war er die erste Arbeits­för­de­rungs-Gesell­schaft im Land Bran­den­burg, Marius‘ Werde­gang (Poli­to­loge, gebür­ti­ger Berli­ner mit bran­den­bur­gi­schen Wurzeln und Mitbe­grün­der des Ufer­werks in Werder an der Havel) und die anvi­sier­ten Ziele.

Zu den Heraus­for­de­run­gen gehör­ten:

  • Fluk­tua­tion: Es gab viele Perso­nal­wech­sel bis 2018. Ein wirk­li­ches Team, das sich vertraut, gab es nicht. Schwer­wie­gende Verän­de­run­gen, wie die Einfüh­rung einer neuen Orga­ni­sa­ti­ons­form, brau­chen aber genau das: Vertrauen.
  • Fach­kräf­te­man­gel: Im länd­li­chen Raum fehlt es zum Teil an geeig­ne­ten Fach­kräf­ten, so auch im Kunst­ort. Wenn sich die Arbeit ohne­hin schon stapelt, kann der Weg in die Sozio­kra­tie, bei dem zu Beginn erst­mal eher mehr als weni­ger Tref­fen und Austausch statt­fin­den, ein stei­ni­ger sein.
  • Kompe­ten­zen: Die Umset­zung einer sozio­kra­ti­schen Kultur setzt Eini­ges voraus:  Einzelne Team­mit­glie­der brau­chen Kompe­ten­zen in der (gewalt­freien) Kommu­ni­ka­tion, im Anspre­chen von Konflik­ten und in der Selbst­füh­rung. Das lernt sich nicht über Nacht.
  • Führung: Marius suchte „neben­bei“ auch Unter­stüt­zung in der eige­nen Refle­xion inner­halb seiner Führungs­rolle.

Nur wenn man mutig den ersten Schritt geht, kommt das System in Bewe­gung – und manch­mal hilft es dabei, nicht schon alle Konse­quen­zen vorab zu kennen…
Wir ließen die Infor­ma­tio­nen nach dem Gespräch erst­mal sacken. Dann trafen wir uns intern zu einer Auswer­tung: Was hatten wir gehört? Welche Hypo­the­sen gibt es? Welche offe­nen Fragen blei­ben? Was können wir im Rahmen der Förde­rung durch unternehmensWert:Mensch anbie­ten? Etwa einen Monat später trafen wir uns erneut mit Marius, bespra­chen offene Punkte und stell­ten ihm unsere Prozess­skizze vor, wobei wir die Details noch gemein­sam erar­bei­te­ten. Wir verab­schie­de­ten uns mit einer Reihe an To-Dos.

Wir entschie­den uns, mit einem Work­shop für das Team zu star­ten (dem so genann­ten Koor­di­na­ti­ons­kreis). Schließ­lich gab es neue Team­mit­glie­der, die ersten Monate von Marius als Geschäfts­füh­rer konn­ten reflek­tiert werden und es brauchte einen Vertrau­ens­auf­bau.
Einige Wochen im Anschluss plan­ten wir einen Leit­bild­work­shop mit allen Betei­lig­ten. Gemein­sam woll­ten wir eine Vision entwi­ckeln, die für alle verständ­lich und moti­vie­rend ist. Zugleich sollte damit eine „Zäsur“ geschaf­fen, die Verän­de­rung nach innen wie außen spür­bar werden. Dane­ben stan­den regel­mä­ßige Coaching-Sessi­ons mit Marius und Kommu­ni­ka­ti­ons­trai­nings für das Team auf dem Plan, um die Kompe­ten­zen für eine erfolg­rei­che Selbst­füh­rung weiter auszu­bauen.

Das Vorge­hen: Kommu­ni­ka­tion im Fokus und viele Impulse für Sozio­kra­tie

Photo von zwei denkmodell-Trainerinnen, die vor einer Wand stehen und einen Workshop vorbereiten, indem sie Poster aufhängen.
Unsere Bera­te­rin und Mode­ra­to­rin Anna (rechts) im Einsatz.

In den Coachings sowie in den Work­shops haben wir kleine Impulse für den Weg in die Sozio­kra­tie einge­baut. Ein paar Beispiele:

  • Regel­mä­ßige Check-In- und Check-Outs-Runden mit Fragen wie „Mit welchem Bedürf­nis komme ich heute an?“ (als Hilfe­stel­lung lagen dabei Karten mit Bedürf­nis­sen auf dem Boden) – um im Bereich der bedürf­nis­ori­en­tier­ten Kommu­ni­ka­tion weitere Kompe­ten­zen aufzu­bauen, sich persön­lich besser kennen zu lernen und Emotio­nen Raum zu lassen
  • Übung zur Selbst­re­fle­xion und Selbst­füh­rung im orga­ni­sa­tio­na­len Kontext anhand der „Wie voll sind die Gläser auf indi­vi­du­el­ler und auf orga­ni­sa­tio­na­ler Ebene“-Übung (hier zum Down­load; im Origi­nal von Dwarfs & Giants, von uns ergänzt)
  • Abende am Lager­feuer, Kino­abende mit New Work-Inspi­ra­tio­nen, Erstel­len eines gemein­sa­men Kunst­wer­kes, Grup­pen­fo­tos… Uns war wich­tig, immer wieder eine infor­melle Atmo­sphäre für die Vertrau­ens­bil­dung, Wert­schät­zung, das Zele­brie­ren von Meilen­stei­nen und ein gemein­sa­mes „Sinnie­ren“ zu schaf­fen. Dabei können unter­schied­lichste Metho­den sinn­voll sein – krea­tiv sein lohnt sich!
  • Um akti­ves, empa­thi­sches Zuhö­ren einzu­üben, haben wir in den Work­shops immer wieder Sequen­zen von Zweier- oder Klein­grup­pen­ge­sprä­chen einge­führt, zum Beispiel zwischen Ehren­amt­li­chen und Mitglie­dern des Vereins beim Leit­bild­work­shop:  
    • Person A erzählt, Person B hört zu
    • Person B beschreibt, was es gehört hat;
    • ggf. ergänzt oder korri­giert A
    • Wech­sel von A und B

Feed­back nehmen und Feed­back geben haben wir eben­falls durch Übun­gen in den Work­shops einge­übt. Zunächst haben wir Übun­gen für rein posi­ti­ves Feed­back ausge­wählt, um sich mit der Feed­back-Situa­tion vertraut zu machen. Eine bei uns beliebte Übung: Bilden Sie einen äuße­ren und einen inne­ren Stuhl­kreis. Es sitzen sich immer zwei Perso­nen gegen­über. Zunächst beginnt die Person im Innen­kreis mit dem Geben von Feed­back, danach die Person im Außen­kreis. Jeweils eine Minute. Wich­tig dabei: Ich-Form, wert­schät­zen­des Feed­back, konkrete Situa­tio­nen benen­nen. Dann ziehen die Perso­nen im Außen­kreis einen Sitz­platz nach rechts weiter – und die Übung beginnt mit neuen Paarun­gen von vorn.

  • Da die inter­nen Meeting­for­mate zum Teil neu struk­tu­riert wurden, war unsere Empfeh­lung, zumin­dest am Anfang noch kurze Refle­xi­ons­run­den nach dem Schema „Gefal­len hat / Das sollte anders oder neu / Ideen zur Verbes­se­rung“
  • Das Konsent-Prin­zip haben wir verste­tigt, indem wir bei inter­nen Entschei­dun­gen und in Team­mee­tings immer weiter für Rollen­klar­heit gesorgt haben (durch ange­lei­te­ten Austausch).

Wir haben außer­dem empfoh­len, eine interne Person als Expert*in insbe­son­dere für Kommu­ni­ka­tion und Feed­back auszu­bil­den, damit die Erkennt­nisse aus einzel­nen Trai­nings nicht zu schnell im opera­ti­ven Alltag verpuf­fen. Im Sinne einer steti­gen und nach­hal­ti­gen Verbes­se­rung der Kommu­ni­ka­tion – für uns das Herz­stück auf dem Weg in die Sozio­kra­tie – ist daher ein*e interne „Hüter*in der Kommu­ni­ka­tion“, die ohne zusätz­li­che Kosten indi­vi­du­elle Coachings und Weiter­bil­dun­gen anbie­ten kann, eine sinn­volle Idee. In einem sehr hete­ro­ge­nen Team braucht es indi­vi­du­elle Weiter­bil­dungs­mög­lich­kei­ten, da die einzel­nen Mitglie­der unter­schied­li­che Kompe­tenz­ni­veaus (Selbst­füh­rung, Kommu­ni­ka­tion, etc.) mitbrin­gen.

Wir beglei­ten das LIKK seit mitt­ler­weile über zwei Jahren auf seinem Weg in die Sozio­kra­tie. Das größte Lear­ning: Selbst­füh­rung passiert nicht über Nacht. Zum Glück, so sagt Marius heute, war bei ihm ein gutes Quänt­chen „Opti­mis­mus und Zuver­sicht“ im Spiel. Diese war notwen­dig, um den Verän­de­rungs­pro­zess anzu­sto­ßen. Nur wenn man mutig den ersten Schritt geht, kommt das System in Bewe­gung – nicht alle Konse­quen­zen sind dabei immer kalku­lier­bar.

Haben Sie Fragen, Feed­back oder eigene Erfah­run­gen mit einem ähnli­chen Prozess? Wir freuen uns über Ihre Kommen­tare!