Der Faktor Zeit in der Beratung
27. April 2017 von Dirk Jung
Aus Sicht der Beratenden ist der Faktor Zeit Freund und Feind zugleich: Zum einen liegt der Zusammenarbeit mit den Kunden ein Vertrag zugrunde, in dem Zeitaufwand und ‑planung klar benannt sind. Damit sind Anfang, Ende und Umfang der Beratungstätigkeit scheinbar klar definiert. Andererseits ist besonders im Change Management jede Beratung Teil eben jenes Wandels, den wir unterstützen und begleiten sollen. Ein iterativer Prozess also, nicht linear planbar, mit eigenen Regeln und: ganz eigenem Zeitbedarf. Zeit spielt eine zentrale Rolle in der Beratung: ausreichend Zeit für die Auftragsklärung, Zeit für Reflektion und Analyse, Zeit für wirklich wirkungsvolle Intervention, Zeit zum Wirken und Ändern – zugleich gibt es aber auch ein Gefühl für die maximale Zeit, die „fremde“ Beratende in einer Organisation verbringen sollten. Es geht um Maß und Takt. Die verschiedenen Reibungsflächen, die aus all diesen Spannungsverhältnissen entstehen, betrachten und kommentieren wir in unserem Beitrag und berichten aus typischen Praxissituationen.
„Ein jegliches hat seine Zeit, und jegliches Vorhaben unter der Sonne hat seine Stunde.“ (Prediger 3,1−13)
„Time is on my side“ (The Rolling Stones)
Wirkungszeiten und Halbwertzeiten
Mit „Wirkungszeit“ ist die Zeit gemeint, die verstreicht, bis eine Beratung spürbare Wirkungen zeigt – während die „Halbwertzeit“, die Verfallszeit des Vergessens und Verblassens von eben dieser Wirkung beschreibt.
Vor einigen Jahren sollten wir die Veränderungs- und Modernisierungspotentiale einer kleinen Industrie- und Handelskammer prüfen. 50.000 Euro standen im Hintergrund bereit, um danach unsere Vorschläge umzusetzen. Wir befragten also alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kammer über ihre Visionen, Wünsche, Problemlagen, etc. Das Überraschende: Der ehrgeizigste Veränderungswunsch, den wir zu hören bekamen, war „irgendwann einen schnelleren Computer zu bekommen“. Selbst der Geschäftsführung fiel nichts Herausfordernderes ein. Was also zurückspiegeln? Welche Veränderungspotentiale aufzeigen? Wir entschieden uns, unsere Einschätzung offen auszusprechen und teilten den gespannt wartenden Mitarbeitenden mit, dass sie unserer Meinung nach noch nicht bereit seien für einen wirklichen Veränderungsprozess, da weder genügend Leidensdruck noch eine ausreichend attraktive Vision vorhanden seien. Die Auftraggebenden, die gewohnt waren, dass Berater („Experten“) ihnen sagten, was zu tun ist, reagieren irritiert, um nicht zu sagen, gekränkt.
Was ist die Pointe? Später erfuhren wir: Unsere Rückspiegelung war offenbar als so paradox und provokant empfunden worden, dass die Kammermitarbeiter ein halbes Jahr später beschlossen, mit eigenen Geldmitteln und ohne externe Beratung einen umfassenden Modernisierungsprozess zu initiieren, der letztlich sehr erfolgreich war. Wirkungszeit unserer Intervention in diesem Fall also: 6 Monate. Die Beratenden waren schon längst über alle Berge als die Wirkung eintrat. Obendrein war die Wirkung in diesem speziellen Fall noch nicht einmal beabsichtigt gewesen.
Schlussfolgerung: Soziale Systeme und ihre Akteure reagieren mit individuell ausgeprägter Trägheit auf Beratungsinterventionen. Häufig erwartet der ungeduldige Kunde, dass die Wirkung der Beratung noch während der Laufzeit des Beratungsvertrages eintritt, also vergleichbar der Einnahme einer Kopfschmerztablette, die sofortige Wirkung zeigt. Daher sollte die zeitliche Wirkungserwartung bei Kunden und Beratenden schon in den ersten Kontext- und Auftragsklärungsgesprächen thematisiert werden, um spätere Enttäuschungen zu vermeiden. Zugleich ist es auch eine Kunst, sich von Ungeduld nicht irritieren und verunsichern zu lassen: Erfahrene Beraterinnen und Berater bleiben lieber maßvoll und schätzen Wirkzeiten richtig ein, statt doch im Schnellschuss „beraterische Kopfschmerztabletten“ zu verabreichen, die langfristig niemandem wirklich helfen.
Sprechen wir nun von der Verfallszeit einer Beratung. Uran benötigt 4,468 Milliarden Jahre, um sich in Blei zu verwandeln. Um die Strahlkraft einer „beraterischen Glanzleistung“ verblassen zu lassen, braucht es oft nur wenige Wochen und einige beschleunigende Faktoren wie z.B. Wechsel der Führungskräfte und Ansprechpartner, Überlastung der Kunden durch das operative Geschäft, Einsatz von neuen Beratern, Start neuer Veränderungsprojekte bevor die laufenden Prozesse ordentlich abgeschlossen sind, um nur einige Klassiker zu nennen. Besonders kurz ist die Halbwertzeit beim Versuch, menschliche Verhaltensweisen und Einstellungen zu ändern. Ohne beharrliches Nachhalten verpufft auch das schönste Klettergarten-Teambuilding nach wenigen Wochen in der Alltagsroutine. Gelingt es jedoch, mit Hilfe der Beratung tatsächlich Strukturen und Prozesse zu verändern und in neue Selbstverständlichkeiten zu verwandeln, steigen die Chancen auf eine nachhaltige Wirkung.
Manchmal verlassen wir mit einem unguten Gefühl das Kundensystem, wenn wir den Eindruck haben, dass es nicht wirklich jemanden gibt, der den angestoßenen Prozess entschieden weiterverfolgen und vorantreiben wird. Die Versuchung ist groß, daraus einen weiteren Folgeauftrag für die Beratung zu akquirieren, aber das löst das Problem des Kunden nicht wirklich…
Beratendenzeit und Kundenzeit
Beratende und ihre Klientensysteme leben oft in unterschiedlichen Zeitzonen. Damit ist hier die innere Eigenzeit, sozusagen die Taktfrequenz, gemeint, mit der Veränderungsprozesse bewältigt werden. In unserem Team von Beraterinnen und Beratern hatten wir beispielsweise einen Kollegen, der unglaublich geduldig mit seinen Klienten war, er hörte aufmerksam zu, verstärkte und wiederholte das Gesagte oft, machte im Gespräch häufig Pausen des Abwägens und Nachdenkens. Er sprach relativ langsam und fragte beharrlich nach. Mit diesen Eigenschaften war er der Lieblingsberater vieler Non-Profit-Organisationen, die sich von ihm verstanden und angenommen fühlten. Dann machten wir den Fehler, diesen Kollegen mit einem Start-up aus der IT-Branche in Kontakt zu bringen. Diese Kunden sprachen schnell und sprunghaft, wollten sofortige Lösungsvorschläge hören, sie hatten keine Geduld, unserem langsam getakteten Kollegen zuzuhören und seine Beraterfragen zu beantworten. Schon beim ersten Gespräch wurde klar, dass das nicht gut gehen konnte und wir brachten deshalb (erfolgreich) einen weiteren Kollegen als Alternative ins Spiel, der an die Taktfrequenz dieses Klienten anschlussfähiger war.
Immer im Kopf zu behalten, dass wir nur „Gäste“ im Kundensystem sind und dieses sein ganz eigenes Tempo hat, ist eine ständige beraterische Herausforderung, zumal wir oft sehr unterschiedliche Kundenmilieus gleichzeitig betreuen. Man kann es vergleichen mit einem Lauftrainer, der verschiedene Läufer während des Rennens begleiten will. Um mit diesen in Kommunikation zu treten, muss er immer ein Stück auf „Augenhöhe“ mitlaufen – und zwar im Tempo der betreuten Läufer und nicht im Tempo, das der Trainer selbst gern einschlagen würde.
Zeitbedarfe und Bergführerprinzip
Stellen wir uns vor, wir wären verantwortliche Bergführer, die eine Gruppe von Touristen auf den Gipfel begleiten sollen. Wir möchten, dass alle zusammen oben ankommen und keiner unterwegs verloren geht. Wer läuft dann hinter dem Bergführer: die schnellsten Touristen oder die Langsamsten? Die Antwort liegt auf der Hand: natürlich die Langsamsten, auch wenn es die anderen nervt. Die Alternative wäre nämlich, die langsamen Wanderer unterwegs bewusst zurück zu lassen.
In der Begleitung von organisationalen Veränderungsprozessen ist die Versuchung groß, sich von dynamischen, ehrgeizigen und „fitten“ Führungskräften das Tempo des Gesamtprozesses diktieren zu lassen und einen wichtigen Teil der Mitarbeitenden unterwegs abzuhängen. Dabei ist die Integration von Akteuren mit langsamer Eigenzeit, die Abwäger und Skeptiker, die Gründlichen und die Abwartenden, von großer Wichtigkeit für die Nachhaltigkeit eines Veränderungsprozesses. In unserer Praxis müssen wir unsere Auftraggebenden nicht selten vor eine bewusste Entscheidung stellen: Warten wir geduldig auf die „Langsamen“ oder beschließen wir, einen Teil der Mitarbeitenden nicht „mitzunehmen“? Und im letzten Fall – sind wir bereit, auch die Konsequenzen dafür zu tragen?
In einem großen Unternehmen haben wir vor kurzem Führungskräfte darin geschult, wie sie mithilfe agiler Teamstrukturen in komplexen Situationen handlungsfähiger werden können. Einige der Führungskräfte waren sofort Feuer und Flamme, bei anderen zündete erst später die Idee, mehr Selbstorganisation in Teams zu geben und Mitarbeitende zu eigenständigeren Entscheidungen zu befähigen – und manche sind bis heute nicht davon überzeugt, dass agile Methoden kompatibel sind mit einer Unternehmenskultur, die eher klassisch-bürokratisch geprägt ist. Was passiert, wenn Beratende sich in solchen Fällen nur an die schnellen Vordenker hängen? Sie werden zu „gefühlten Komplizen“ eines noch vielerorts ungeliebten Veränderungsprozesses, und damit zu Verbündeten einer „Partei“. Sie verlieren ihre Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft, die in einem solchen Fall darin liegen sollte, die „Langsameren“ zu verstehen, Bedenken aufzunehmen und so glaubhafter Partner für alle in einem Prozess des Wandels zu bleiben. Denn: Wenn die Schnellen davon galoppieren, bleibt eine Organisation der „zwei Geschwindigkeiten“ zurück, die sich permanent selbst im Weg steht.
Für uns Beratende ist das Bergführerprinzip daher zentral – auch wenn es sicherlich immer wieder einzelne Touristen gibt, die doch lieber zurück ins Tal gehen. Doch nur mit dem halben Team am Ziel anzukommen, ist kein Zeichen guter Beratung.
Kulturelle Eigenzeit und Beratende auf der Flucht
„Jeder Vorgang dauert genau so lange, wie man ihm Zeit dafür gibt“, lautet ein Lehrsatz aus der Soziologie in der öffentlichen Verwaltung. Auftraggebende mit schmalen Budgets neigen dazu, diesen Satz auch auf die zeitliche Abmessung von Beratungsaufträgen anzuwenden. Sie stellen damit die Beratenden, die sie unter Vertrag nehmen wollen, vor eine professionelle Gewissensentscheidung: Kann ich diese Arbeit mit dieser knappen Zeitvorgabe seriös durchführen? Das folgende Beispiel schildert einen besonders krassen Fall vom Zusammenprall zweier Zeitkulturen.
Ein öffentlicher Auftraggeber fragte bei uns einen Beratungseinsatz an, um in Mittelamerika eine Serie von Gruppeninterviews mit indigenen Bauern*Bäuerinnen durchzuführen. Es ging um Fragen der Geschlechtergerechtigkeit bei Förderprojekten („Gender“). Die Vorstellung des Auftraggebers war – diktiert vom knappen Budget und Termindruck – dass die Gruppen von Bäuerinnen* und Bauern* jeweils effizient und zackig in zwei Stunden befragt werden sollten (Übersetzung inklusive), um dann schnell weiter zum nächsten Dorf zu fahren. Die Tatsache, dass gerade Erntezeit war und die Leute eigentlich auf den Felder sein wollten, interessierte dabei ebenso wenig wie die kulturell notwendige Zeit für „menschliches Anwärmen“, Vertrauensbildung und Austausch von Höflichkeitsgesten, ehe Angehörige der indigenen Kulturen mit Ausländer*innen über die heiklen Themen der Geschlechterbeziehung sprechen – so sie dies überhaupt tun…
Hätten wir den Auftrag angenommen, wären wir zwischen den Zeituniversen einer öffentlichen Institution (Operationsplan, Abgabetermine, Mittelabfluss) und der ländlichen Bevölkerung (Saat und Ernte, Wind und Wetter, Sitzen und Erzählen) zerrieben worden. Wir mussten lächeln bei der Vorstellung eines Beratenden, der mit quietschen Reifen und in eine Staubwolke gehüllt von Termin zu Termin hetzt, wie Richard Kimble auf der Flucht und ratlose Dorfbewohner*innen zurücklässt, die noch gar nicht dazu gekommen waren, ihm die wirklich wichtigen Dinge zu erzählen. Denn ein jegliches hat seine Zeit. Und genau aus diesem Grund haben wir uns dann entschlossen, kein Angebot abzugeben.
Wie schön wäre es, wenn die Widersprüche immer so klar absehbar und entsprechend auch ablehnbar wären. Einzuschätzen, ob das minimal notwendige Zeitkontingent für einen Beratungsauftrag gewährleistet ist, ist ein häufiges Diskussionsthema insbesondere mit anspruchsvollen Kund*innen. In vielen Fällen besteht unsere Reaktion darin, dass wir aus unseren Konzeptentwürfen das Tempo herausnehmen und dem Kund*innen eine „Schritt für Schritt“ Strategie vorschlagen.
Vom richtigen Zeitpunkt
Nun haben wir über Wirkungen und notwendige Zeitkontingente für Beratung gesprochen. Wie steht es aber um den richtigen Zeitpunkt? Eine Kollegin erzählt dazu gern von einem Debriefing-Gespräch einer komplexen Stakeholder-Beratung. Am Ende eines umfangreichen Projekts standen die Projektverantwortlichen samt Beraterin vor einem kniffeligen Problem des Projektmanagements und der Finanzierung. Die Beraterin erinnert sich: „Ich wusste die Lösung eigentlich schon zu Beginn unseres Debriefing-Gesprächs. Sie war mir nämlich in der Nacht davor eingefallen. Aber wenn ich sie zu früh vorgebracht hätte, hätte mir niemand zugehört und alle hätten stattdessen versucht, meinen Vorschlag zu kritisieren. Ich wartete also bis zum Schluss der Besprechung, bis alle Beteiligten ausreichend ratlos und verwirrt waren, dann fiel meine Idee wie ein reifer Apfel vom Baum und wurde entsprechend begeistert akzeptiert.“
Diese Praxiserfahrung deckt sich mit einem der 10 Grundprinzipien der Prozessberatung, wie sie Edgar Schein beschreibt: „Immer wieder mache ich die Erfahrung, dass die Einführung meiner Perspektive, das Stellen einer klärenden Frage, der Vorschlag einer Alternative oder was immer ich von meiner Warte aus einbringen möchte, sich danach richten muss, wie aufmerksam der Klient gerade ist. Dieselbe Bemerkung kann sich, je nach dem Zeitpunkt, zu dem sie geäußert wird, ganz verschieden auswirken.“ [1]
Zeitfragen für das Kundengespräch
Vor dem Hintergrund unserer geschilderten Erfahrungen möchten wir jedem Beratenden empfehlen, sich und seinen Kunden in der Anfangsphase der Beratung folgende Fragen zu stellen:
- Gibt man mir genug Zeit, um zu verstehen, was im Kundensystem „los“ ist?
- Habe ich genug Zeit, um mit den Menschen eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung aufzubauen?
- Haben die Menschen im System überhaupt ausreichend Zeit für das Thema und ihre Beteiligung am Veränderungsprozess?
- Zu welchem Zeitpunkt betrete ich das Kundensystem? Welche Handlungsoptionen folgen daraus für mich? Wofür ist es zu früh? Wofür ist es zu spät?
- Wann ist der richtige Moment für mich zu gehen?
Ein jegliches hat seine Zeit.
[1] Schein, Edgar H. (2010): Prozessberatung für die Organisation der Zukunft. Der Aufbau einer helfenden Beziehung. 3. Aufl. Bergisch Gladbach: EHP.