Holacracy bei denkmodell – werden wir jetzt „cracy“?
14. Mai 2019 von Desiree Bösemüller
In der letzten Woche gönnten wir uns einen zweitägigen Holacracy Workshop im Team. Unser Trainer war Georg Tarne, Berater bei dwarfs and Giants und Mitgründer von soulbottles. Jetzt fragen Sie sich vielleicht: Was ist dieses „Holacracy“? Holacracy bzw. Holakratie ist eine Art „Betriebssystem“, eine Struktur, entstanden in und durch Praxis, Anwendung, Versuch und Irrtum.
Kurze Definition – Wer oder was ist dieses Holacracy?
Der Begriff wurde dabei von Arthur Koestler geprägt, er definiert „Holon“ als „ein Ganzes, das Teil eines größeren Ganzen ist und die Holarchie als die Verbindung zwischen den Holons“ ( vgl. Robertson, Brian: Holacracy – ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt, Vahlen Verlag, S. 36). Ein Beispiel macht es anschaulicher: Ein Organ ist ein selbstständiges Ganzes, aber eben auch Teil eines größeren Ganzen – dem Körper. Die Holakratie ist also eine natürliche Form von Struktur, die für Organisationen als Alternative zur „Hierarchie“ vorgeschlagen wird. Und jetzt mal konkreter…
Hintergrund sind (mal wieder) die neuen großen
Herausforderungen, denen sich Organisationen gegenüber sehen – dazu gehören vor
allem die wachsende Komplexität, steigende und sich verändernde Erwartungen von
Kunden in Verbindung mit einer zunehmenden Transparenz, kürzeren Zeithorizonten…
Die Liste ist fast endlos. Allerdings gab und gibt es eine überraschende
Beobachtung: Alles verändert sich rasend schnell – nur Organisationsstrukturen
bleiben erstaunlich stabil. Organigramme mit einer Führung an der Spitze und
vielen Mitarbeitenden weiter unten in der Kaskade – und mehrere Führungsebenen
dazwischen – sind in vielen Organisationen nach wie vor die Regel. Witzelnd
lässt sich feststellen, dass es neben den formell festgehaltenen Strukturen noch
eine „tatsächliche Struktur“ gibt, die von persönlichen Beziehungen, politischen
Schachzügen, kurzen Dienstwegen und weiteren Eigenheiten lebt:
Holacracy geht von drei Strukturen innerhalb von Organisationen aus und möchte dabei die Lücke zwischen der formalen und der erforderlichen Struktur möglichst gering halten, damit nicht auf die dritte Strukturart – nämlich dieser oben aufgezeigten informellen Struktur – ausgewichen werden muss/kann.
Braucht es das? Annahmen und Prinzipien der Holacracy
Holacracy stellt außerdem die Hypothese auf, dass neue Paradigmen, Methoden und Ideen auch neue Organisationssysteme brauchen. Unterstützung für diese Hypothese bekommen die „Holakraten“ aus der Forschung. „Forschungen zeigen, dass jedes Mal, wenn sich die Größe einer Stadt verdoppelt, die Innovation oder Produktivität pro Einwohner um 15% erhöht. Aber wenn Unternehmen größer werden, verringert sich meist die Innovation oder Produktivität der Mitarbeiter*innen.“ (vgl. Robertson, Brian: Holacracy – ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt, Vahlen Verlag, S. 15). Wie können Organisationen also selbstorganisierter funktionieren, dabei Raum und Ressourcen teilen, Verantwortlichkeiten kennen und deren Grenzen einhalten – dabei aber Raum für Anpassung an aktuelle Veränderungen lassen? Holacracy möchte eine Antwort darauf sein und gibt Organisationen folgendes mit an die Hand:
- eine Verfassung, die die „Spielregeln“ bestimmt und Autorität (sowie Entscheidungsmandate) neu verteilt
- eine Form von Organisationsstruktur, in der Rollen und Autoritätsbereiche der Mitarbeitenden definiert werden
- einen Prozess zur Entscheidungsfindung
- Meeting-Prozesse und Formate, damit die Arbeit an und in der Organisation sichergestellt wird.
Das klingt alles sehr schön, aber was heißt das genau? Bei Holacracy gibt es ein paar zentrale Prinzipien, die ein guter Leitfaden sind:
- Dynamische Rollen statt statische Jobs mit Stellenbeschreibungen (eine Person kann mehrere Rollen inne haben, dabei hat jede Rolle ein ideales Endergebnis, spezifische Verantwortlichkeiten, Aktivitäten und Entscheidungsautoritäten)
- Verteilte Autorität statt zentrale Kontrolle (wie im Beispiel mit der Stadt – damit Wachstum innerhalb eines Rahmens zu mehr Produktivität führt)
- Purpose-Hierarchie statt Macht-Hierarchie (Purpose meint einen gemeinsamen „Leitstern“ als Orientierung und Entscheidungsprämisse innerhalb einer Organisation zu haben, Purpose wird damit zum neuen Boss)
- Laufende Entwicklung statt große Reorganisationen (hin zu Prototypen, Testen, Sprints… damit ein dynamisches Steuern möglich wird; Meetingformate der Holacracy helfen dabei, laufende Entwicklung zu ermöglichen)
- Transparente Regel statt Führung durch Personen (es gibt eine Holacracy Verfassung sowie Standardrollen für die Implementierung, die Transparenz sicherstellen sollen)
Das liest sich recht einfach und leicht runter. Doch was meint das in der Praxis? Hier möchten wir erstmal aus unserer eigenen Erfahrung berichten. Schon vorweg: Wir bei denkmodell haben Holacracy in dieser Form (noch) nicht eingeführt.
Erfahrungen aus der Praxis
Was bei uns bisher geschah…
Mai 2018: Der Impuls den Weg weiter in Richtung Selbstorganisation zu gehen, kam von den Mitarbeitenden. Schon immer wurde bei denkmodell in Projekten (also in der konkreten Kundenarbeit) selbstorganisiert gearbeitet – das klappte sehr gut. Die interne Arbeit war allerdings nicht ganz so klar geregelt – wer trifft hier eigentlich wie Entscheidungen? Im Jahr 2018 ist denkmodell außerdem von 14 auf 22 Mitarbeitende gewachsen. Mehr Leute, mehr Funktionsgruppen, mehr Projekte, mehr Themen, mehr Kunden und ein höheres Entwicklungstempo im Markt. Gleichzeitig wachsen die Anforderungen von Kunden, Partnern und vor allem auch Mitarbeitenden. Spätestens hier stößt unser bis dato sehr zentral organisiertes denkmodell an seine Grenzen. Bei den Teamtagen folgte der Ruf nach Veränderung. Verantwortung und damit einhergehende Entscheidungsmandate sollten auf mehreren Schultern im Team verteilt werden. Dafür konnte sich auch die Geschäftsführung begeistern – die ungewollt vorher oft Bottleneck (Flaschenhals) war.
Oktober 2018: Nach mehreren Konsultationsrunden beschlossen die denkmodell Gesellschafter*innen im Oktober 2018, den Weg Richtung Selbstorganisation weiter zu gehen. Die Gesellschafter*innen entschieden allerdings über kein spezifisches Modell, sondern bestimmten vier Personen, die gemeinsam in vielen – auch reibungsvollen und heißen – Diskussionsrunden einen Vorschlag zur ersten Ausgestaltung des selbstorganisierten Systems machen sollten.
Oktober 2018 – Dezember 2018: Die vier Personen hielten alle Diskussionsergebnisse in einer sogenannten „Fibel“ fest – ein Handout für die Mitarbeitenden, das u.a. Entscheidungsprozesse, Verantwortlichkeiten und Rollen festhielt. Feedbackschleifen, Klärungsrunden und Weiterentwicklungen erfolgten sowohl mit dem Gesamt-Team als auch im 4‑er Personenkreis. Neben dem Betriebssystem Holacracy wurde auch das „kollegial geführten Unternehmen“ und Soziokratie als Orientierungspunkt herangezogen.
Ende Dezember 2018: denkmodell wird zum Kreis? Auf dem Teamtag im Dezember wurde der aktuelle Stand des neuen Betriebssystems „Kreismodell“ vorgestellt. Zu den Kreisen: In der Holacracy ist die Organisation ein Kreis (der sogenannte „General Management Circle“) mit mehreren Unterkreisen. Wir haben zunächst unsere aktuelle Organisation mit samt der Funktionseinheiten in den Kreisen abgebildet: Das heißt neben dem General Management Kreis gibt es z.B. die Kreise Unternehmenskommunikation, IT, Personal & Team, Finanzen, Qualitätsmanagement, Strategie & Organisationsentwicklung sowie Büromanagement. Auch die Aufgaben wurden erstmal aus dem bestehenden System übertragen (beispielsweise wurde festgelegt, dass der Kreis Unternehmenskommunikation für Webauftritte, Printwerbung, Social Media etc. verantwortlich ist).
Die Lead Links (bei uns heißen diese: Navigator*innen) dieser Unterkreise wurden von der Geschäftsführung (als Lead Link des General Management Kreises) angesprochen und durften sich entscheiden, ob sie die Rolle annehmen wollen.
Die angesprochenen Lead-Links sind automatisch Teil des General Management Kreises (gemäß Holacracy sind diese dafür verantwortlich, die breite, „unternehmerische“ Perspektive aus dem General Management Kreis in den jeweiligen Unterkreis zu tragen, Rollen und Prioritäten sowie Strategien des Kreises festzusetzen).
Eins vorweg: Nicht jede Person, die gefragt wurde, nahm die Rolle an. Zwei Lead/Navigator*innen Rollen blieben erstmal unbesetzt (und werden in dem Fall einfach weiterhin durch die Geschäftsführung übernommen).
Ende Dezember 2018 standen die Kreise und Navigator*innen fest. Ein erster Schritt war getan.
Januar 2019: Im Januar 2019 hieß es dann Kreise konstituieren – wer kann / soll / darf, in welchem Kreis mitarbeiten? Wo liegen die Kreisprioritäten? Das war in erster Linie Aufgabe des*der Lead Links/ Navigator*in – und sorgte für Verwunderung. Es wurde deutlich: Holacracy meint nicht unbedingt mehr Partizipation und die Frage von „Macht“ wurde zum Thema. Ist ein Lead-Link nicht doch einfach nur Abteilungsleiter*in?
Februar 2019 bis heute: Seit Februar geht die Arbeit in vielen Kreisen erst so richtig los: Neue Teamformate, wie einen weiteren Teamtag oder eine Kneipentour zum Thema „Strategie“, wurden organisiert. Erste Mitarbeiter*innengespräche erfolgten in neuen Set-Ups – ohne Geschäftsführung dafür mit verantwortlichen Kreismitgliedern.
Es soll aber nicht verheimlicht werden, dass unsere Rollen zum Teil noch immer unscharf sind und Verantwortlichkeiten bzw. Aufgaben schwerer abgrenzbar als gedacht. Außerdem fehlt es noch an einem klaren, gemeinschaftlich-getragenen Purpose. Noch geben wir allerdings nicht auf – mit den entstehenden Ineffizienzen hatten wir gerechnet, aber zugegeben, es ist manchmal dennoch überraschend sie „tatsächlich“ zu spüren zu bekommen.
Unsere Kritik und offene Fragen
Neben den Kreisen gibt es selbstverständlich noch uns als Gesamtteam – und hier wurde schon zu Beginn des Jahres der Wunsch nach einem gemeinsamen Bild zum Betriebssystem Holacracy laut – das Training mit Georg Tarne ist ein Ergebnis davon. Im Moment knabbern wir am Transfer des Gehörten/Gelernten: Holacracy bei denkmodell – ja oder nein, wie viel ist vielleicht zu viel des Guten? Was fehlt uns bei Holacracy – wo kreieren wir ggf. weitere Räume?
Unser Hauptkritikpunkt besteht darin, dass Holacracy vor allem auf Strukturen und Prozesse sowie auf den strukturellen und operativen Bereich einer Organisation schaut – hier gibt es klare Angaben zu Meetingstrukturen und Entscheidungsverfahren.
Für die zwischenmenschlichen Beziehungen und den individuellen Raum, gibt Holacracy nichts mit an die Hand. Hier sind Organisationen selbst gefragt. Dabei kommt denkmodell aus einer beziehungsorientieren Arbeitsweise – Entscheidungen wurden nach Konsultationen getroffen, früher (im kleineren Team) mit dem Hang zur Basisdemokratie. Die starke Trennung von Sach- und Beziehungsebene in der Holacracy führt selbstverständlich zu Irritationen. An die Musterbrechung müssen wir uns erst gewöhnen und fragen uns auch: Wollen wir das? Ist das sinnvoll? Welche Kompetenzen braucht es dafür noch im Team?
Georg Tarne führte uns daher in das Meeting-Format „Clear the Air“ ein, das aus dem Bereich der „Gewaltfreien Kommunikation“ kommt (und somit erstmal nichts mit Holacracy am Hut hat): Jede*r darf eine Spannung benennen (auf einer Skala von 1 bis 10, 10 ist dabei eine sehr intensive Spannung) und die Anzahl der Menschen, mit denen man diese Spannung hat (1 bis alle). Die Spannungen werden dann nach Intensität prozessiert, bei der höchsten Intensität wird begonnen. Der*die Spannungsgeber*in benennt die Spannung – die angesprochene(n) Person(en) hören zunächst zu und erzählen dann, was sie gehört haben. Dann wird gewechselt – die angesprochene(n) Person(en) dürfen sich äußern, die Spannungsgeber*in hört zu und gibt das Gehört in eigenen Worten wider. Zum Abschluss gibt es noch eine Wertschätzungsrunde mit allen Teilnehmenden des Meetings. Unserem Team hat es sehr gut getan – mit diesem Meetingformat werden wir weiterarbeiten, ob nun Holacracy oder nicht.
Außerdem fragen wir uns – können wir die Organisation schrittweise in die Holacracy überführen? Noch sind nicht alle Mitarbeitende mit Rollen ausgestattet, unser Kerngeschäft (die Projektarbeit) ist noch kein Teil des Kreissystems. Wie sinnvoll ist der stufenweise Übergang – und fällt er uns letztlich eher auf die Füße?
Die vielen zusätzlichen Meetings durch das Plus an interner Arbeit sind bereits Thema – wie viele Ressourcen können und wollen wir uns für die Arbeit am und im System freischaufeln? Wie können wir diese finanzieren und welche Ergebniserwartungen können wir aneinander formulieren? Wie sieht daher das zukünftige Gehaltssystem bei denkmodell aus – auch hier gibt es gerade Ideensprints.
Wir strecken mittendrin in der Veränderung. Es gibt viele Baustellen, aber es gibt auch viel Energie und Lust an den Baustellen zu arbeiten. Auf einer Metaebene freuen wir uns als Berater*innen natürlich von unserem eigenen Veränderungsprojekt zu lernen und unsere Erfahrung weiterzugeben – wo und wie auch immer möglich. Sprechen Sie uns bei Fragen, Feedback, ähnlichen Erfahrungen unbedingt an – wir lernen gern auch von Ihnen!