Macht und Beratung – Gang über ein vermintes Gelände
21. Februar 2010 von Dirk Jung
Macht ist „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht“
Max Weber, Soziologe
„Obwohl Macht und Wandel zusammengehören wie siamesische Zwillinge, wird zwar viel über Veränderungsprozesse geschrieben, aber wenig über Macht“
Roswita Königswieser, prominente Organisationsberaterin
Eine typische Workshopsituation: Die teamorientiert denkende Führungskraft lauscht still und mit zunehmendem Unbehagen der heftigen Debatte ihrer Mitarbeiter, die nun schon eine Stunde dauert und sich immer auswegloser verheddert. Immer häufiger werden hilfesuchende Blicke in Richtung Führungskraft geworfen, die sich aber passiv verhält. Bis sie schließlich in der Kaffeepause von der Moderation zur Seite genommen und bedrängt wird: “Sie müssen jetzt eine Entscheidung treffen. Sonst sitzen wir heute Abend noch hier!“ „Meinen Sie wirklich? Aber wir haben doch noch gar keinen Konsens erzielt!“ „Den werden wir auch nicht erzielen. Sie müssen selbst entscheiden! Sie sind die Leitung!“ Als die Führungskraft daraufhin nach der Pause verkündet, sie habe nach Anhörung aller Argumente eine Entscheidung getroffen, ist das Seufzen der Erleichterung deutlicher zu hören als das Grummeln der Unzufriedenen.
Warum tun sich Führungskräfte so schwer beim Umgang mit der Macht? Wie sollen Beratende mit ihr umgehen?
Begegnungen mit der Macht
Obwohl der Faktor Macht zu den ureigenen Strukturelementen von Organisationen und Gesellschaften gehört, finden sich in der Fachliteratur und in den Ausbildungen für Organisationsentwickler wenig Hinweise darauf, wie sich Beratende in der konkreten Arbeit mit diesem Phänomen auseinandersetzen soll. Ein Grund dafür könnte in der „therapeutischen“ Denktradition vieler OE-Ansätze liegen, die das Phänomen Macht zwar in ihre theoretischen Systemmodelle integrieren, aber wenig zum praktischen Umgang mit der Macht in konkreten Beratungssituationen aussagen.
Dabei scheint die Beratung von Organisationen eher dem Überlebenskampf im Dschungel zu gleichen:
„In Organisationen tobt das Leben. Weit von jenen anämischen Gebilden entfernt, die in der althergebrachten Forschung unter dem Namen ‚Organisationsstruktur’ ihr schattenhaftes Dasein fristen und von oben bis unten vermessen werden, sind sie in Wirklichkeit Arenen heftiger Kämpfe, heimlicher Mauscheleien und gefährlicher Spiele mit wechselnden Spielern, Strategien, Regeln und Fronten. Der Leim, der sie zusammenhält, besteht aus partiellen Interessenkonvergenzen, Bündnissen und Koalitionen, aus side payments und Beiseite-Geschafftem, aus Kollaboration und Resistance, vor allem aber: aus machtvoll ausgeübtem Druck und struktureller Gewalt (…)“[2]
Den Beratenden begegnet die Macht in dreierlei Ausprägungen, und sein konkreter Umgang mit ihr muss sich in diesem Dreieck bewegen:
- Macht als Subjekt. Dies entspricht der obigen Definition von Max Weber, der die Macht in erster Linie als Person oder Organisation begreift, die ihren Willen durchsetzen kann. Interessanterweise spricht er dabei von Macht als „Chance“ etwas zu verändern.
- Macht als Struktur. Hier muss sich der Beratende mit Beziehungs- und Verhaltensmustern, Spielregeln und Rollen, Führungsstrukturen und ‑mandaten auseinandersetzen und mit der Frage, ob diese funktional im Sinne der Organisationsziele sind.
- Die Macht der Beratenden. Diesen Blick in den Spiegel riskieren Berater nur ungern. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Einfluss auf Entscheidungsträger und der eigenen Stellung im Machtgefüge des Klientensystems führt direkt zur Frage, welche Verantwortung der Berater für die Interventionen und ihre Wirkungen trägt.
Wer hat Macht – und warum streitet er*sie es ab?
Folgende Fundstelle in der Literatur beschreibt sehr gut unsere eigene Beratungserfahrung in – zumindest europäischen – Management-Etagen:
„Befragt man Manager, wie wichtig ihnen Macht und Einfluss sind, erhält man zwei völlig gegensätzliche Antworten: So gut wie jeder sagt, dass es ihm wichtig ist, Einfluss zu haben. Zugleich behauptet fast jeder, dass ihn Macht überhaupt nicht interessiere. Fragt man nach, wo denn den Unterschied zwischen beiden liegt, kommen die meisten in Verlegenheit. Sie erkennen die Nachbarschaft, können aber nicht viel mehr sagen als dass das eine wünschenswert und das andere pfui ist.“[3]
Im europäischen Kulturkreis hat sich die Einstellung gegenüber „Macht“, d.h. ihre gesellschaftliche Bewertung und die Attitüde, mit der sie öffentlich ausgeübt wird, in den letzten hundert Jahren sehr verändert. Historische Erfahrungen und politischer Wandel erzeugen ein Grundmisstrauen gegenüber Personen, die Machtfülle besitzen und diese offen ausüben – selbst wenn diese Macht demokratisch legitimiert und mandatiert ist.
Dieser gesellschaftlichen Negativbewertung von „Macht“ können sich auch die betroffenen Führungspersonen nicht entziehen. Die Wertschätzung partizipativer Managementkultur und die überwiegend kritische Beurteilung von autoritären Führungsstilen wirken zusätzlich verunsichernd auf die Inhaber und Ausüber von Macht. So bemerkt der österreichische Unternehmensberater Gerhard Schwarz: „Ich kenne Vorstandsvorsitzende, die stolz darauf sind, dass man eine Stunde lang bei einer Sitzung nicht drauf kommt, wer der Boss ist…“[4]
Hinzu kommt, dass sich die Quellen, aus denen Personen und Organisationen ihre Macht schöpfen, seit Max Webers Lebzeiten (1864−1920) stark verändert haben. Neben die eindeutig hierarchisch definierten Machtbefugnisse von Entscheidungs- und Funktionsträger sind in Wirtschaft und Gesellschaft zunehmend komplexe Einfluss-Cluster getreten, die sich in einem ständigen Verhandlungsprozess miteinander befinden: Formelle und informelle Netzwerke, gesetzlich legitimierte Kontrollgremien und Interessensvertretungen (z.B. Betriebsräte, Aktionär, Verbraucherverbände) halten sich gegenseitig in Schach. Das Internet gibt jedem die Möglichkeit, öffentlichen Druck in eigener Sache zu erzeugen, Transparenz zu erzwingen und sich blitzartig mit Gleichgesinnten zu vernetzen.
An Stelle der simplen Konstellation „Macht – Ohn-Macht“ finden wir in der modernen Organisationsrealität komplexe Beziehungsmuster vor, die von wechselseitiger Abhängigkeit geprägt sind und auf unterschiedlichen Machtquellen beruhen (z.B. Information, Beziehungen, Expertenwissen, Finanzen).
Hierdurch erhöht sich bei der Beratung und Durchführung von Veränderungsprojekten – rein technisch gesprochen – die Zahl und Heterogenität der einzubindenden Agierenden und die Komplexität der Verhandlungsprozesse.
Weit wichtiger und schwieriger ist es aber für die Organisationsberatung, die zentrale Funktion von Macht für das Gelingen von Veränderungsprozessen zu erkennen, sie den Klienten und Agierenden bewusst zu machen und diese zu ermutigen, ihre Macht sinnvoll für die Durchsetzung und die Nachhaltigkeit der Veränderung einzusetzen: zum Regulieren, Strukturieren und Sanktionieren. Aber auch zum Irritieren, Aufbrechen und Durchrütteln.
Macht – Wozu?
Damit sind wir schon bei der Frage angelangt, auf welche Weise Macht zur Funktionsfähigkeit von Organisationen beiträgt – d.h., wo sie aus Sicht des Beratenden gegebenenfalls gestärkt, geklärt und wirksamer ausgeübt werden sollte. Dies ist unabhängig davon, ob die betreffenden Personen dies in „sympathischer“ Weise tun oder eher als „Bulldozer“.
Die Aufrechterhaltung dieses distanzierten „coolen“ Beraterblicks gegenüber der Macht ist oft das Schwerste in der Prozessbegleitung. Für den Beratenden ist die Versuchung groß, eigene, häufig unbewusste Erfahrungen und soziale Prägungen in Bezug auf Macht in die Beziehung zum Klientensystem einfließen zu lassen, sei es durch allzu große Skepsis und Abwehr gegenüber Machtausübung, sei es durch übergroßen Genuss der „Nähe zur Macht“.
Der funktionale Blick auf die Macht lässt erkennen, ob die „Machthaber“ der Beratung bedürfen, wo, wie und wann sie ihre Macht einsetzen müssen. Dabei geht es im Regelfall um die Erfüllung von fünf wichtigen Funktionen im Rahmen von organisationalen Abläufen und Strukturen:
1. Entscheidungsmacht
Reduzierung vorhandener Optionen, Abkürzung und Beendigung unproduktiver Verhandlungsprozesse und Freisetzung der blockierten Energie für sinnvollere Zwecke.
2. Definitions- und Deutungsmacht
Definition von Zielen, aber auch von Leitbildern, Leitlinien, Grenzen und Benchmarks, Deutung und Bewertung von Zuständen, Verhalten und Situationen als verbindliche Richtschnur für andere Menschen.
3. Konfliktregelung
Führungskräfte müssen erkennen, wann ihre Mitarbeiter Konflikte nicht mehr ohne Intervention eines „Mächtigen“ regeln können. Konfliktscheue Vorgesetzte warten hier oft zu lange, ungeduldige Führungskräfte mischen sich zu früh ein und bremsen dadurch die Selbstregulationsfähigkeit.
4. Ermächtigungsmacht
Fähigkeit zur konsequenten Delegation von Macht, gepaart mit sinnvoller Unterstützung und Kontrolle.
5. Sanktionsmacht
Damit ist die Macht zur Belohnung und Bestrafung von Verhalten gemeint. Ersteres erfordert einen offenen Blick und ein klares Wort, letzteres den Mut, sich unbeliebt zu machen und die Kraft zur Auseinandersetzung.
Macht schafft Sicherheit. Vorhandene, aber nicht ausgeübte Macht in Organisationen führt zu „grauen“, intransparenten Unsicherheitszonen, in denen das Machtvakuum durch Intrigen, Seilschaften und wechselseitige Blockaden unproduktiv „gefüllt“ wird. Zugleich ist die nicht ausgeübte Macht ein Verzicht auf die Chance zur Gestaltung von Veränderungsprozessen, wie Max Weber es formuliert. Beide Aspekte sind gute Beratungsargumente gegenüber zögerlichen Klienten, die Machtausübung als etwas „Unanständiges“ empfinden.
Die geborgte Macht der Beratenden
Der Status des „externen Beratenden“ positioniert ihn zwar außerhalb der formalen Machtstrukturen der betreffenden Organisation, weist ihm aber gerade deshalb einen besonderen, wenn auch zeitlich begrenzten Status zu. Für die Zeit des Auftrags ist er aus Sicht vieler Mitarbeiter eine „graue Eminenz“, er teilt Privilegien mit dem hochrangigen Auftraggeber, hat Zugang zu exklusiven Informationen und geht im inneren Zirkel der Macht ein und aus. Es scheint eine weit verbreitete Illusion zu sein, dass man sich als Berater auf den eigenen „coolen Blick“ und eine professionell-neutrale Position zurückziehen kann, frei von Interessen und Machtspielen.
Neuere Forschungen und Fallbeobachtungen zeigen, dass „wohlwollende Allparteilichkeit, Distanz, gelingende Kommunikation oder Qualifizierung (…) eben nicht vorausgesetzt werden (können), sondern durchsetzt (sind) von mikropolitischen Konstellationen und Interessen. Berater (sind) nicht nur neutrale Externe, die einem Unternehmen bei seiner Umweltanpassung helfen, sondern sie sind mehr oder weniger machtvolle Mitspieler in einem Veränderungsspiel. Sie gehen Koalitionen ein, versuchen, ihren Akteursstatus zu sichern, versuchen (eher unbewusst), in bestehende Unsicherheitszonen der betrieblichen Akteure einzugreifen und sind an der Entstehung neuer Unsicherheitszonen beteiligt.“[5]
Viele Beratende meiden die Auseinandersetzung mit der eigenen Macht, und damit mit der eigenen Verantwortung. Dabei laufen sie nicht selten in eine selbst gestellte Falle:
„Vor lauter zirkulären Fragen und vor lauter Bemühung, die Neutralität nicht zu verlieren, ist ihnen das Gefühl für ihre eigenen Vorstellungen, für ihre eigenen Positionen, abhandengekommen. Sie verstehen das Neutralitätspostulat auf eine Weise, die sie zur Enthaltsamkeit gegenüber ihren eigenen Werten verführt, ohne dass dadurch entstehende Vakuum durch etwas anderes füllen zu können.“[6]
Durch eine solche falsch verstandene Haltung der Neutralität vermeidet der Beratende, sich inhaltlich zu positionieren und dadurch (an)greifbar zu werden. Zudem (ver)führt die Forderung der systemischen Beratung, die Entscheidungskompetenz der Klienten zu stärken dazu, dass sich der Beratende der eigenen Mitverantwortung für getroffene Entscheidungen und ihre Konsequenzen entzieht. In Wahrheit jedoch muss sich gerade Beratung „in der Nähe zur Macht“ besonders intensiv der Frage stellen, ob sie zu viel oder zu wenig Verantwortung für die angestoßenen Prozesse übernommen hat.
Was tun?
Fassen wir zusammen. Wenn Sie ein „Machthaber“ in Ihrer Organisation sind, könnten folgende Empfehlungen für Sie hilfreich sein:
- Entwickeln Sie ein Gespür dafür, wann und wo Ihre Mitarbeiter und ihre Organisation Ihrer Machtausübung bedürfen, um funktions- und veränderungsfähig zu bleiben.
- Üben Sie dort Ihre Macht transparent, aber entschieden im Sinne Max Weber’s aus, d.h. notfalls „auch gegen Widerstand“.
- Begreifen Sie Macht als Chance – und nutzen Sie sie.
- Machen Sie sich ebenso deutlich, wo Ihre Mitarbeiter und Ihre Organisation Ihrer Macht nicht bedürfen. Betreiben Sie dort kein „Management by Teebeutel“ (Hängt sich in alles rein…)
- Machen Sie sich die Quellen Ihrer Macht bewusst – und Ihre eigene Abhängigkeit davon.
- Seien Sie sich bewusst, dass Macht immer auf einer sozialen Beziehung beruht. Gestalten Sie diese Beziehung verantwortungsbewusst.
- Suchen Sie aktiv die Nähe zu Menschen, die Ihrer Macht nicht ausgesetzt sind und auch nicht von ihr profitieren wollen. Hier ist die Chance am größten, ein ehrliches Feedback zu bekommen.
Wenn Sie als Berater der Macht begegnen (und das tun Sie ja fast immer), sind Sie „gut beraten“, wenn Sie folgende Prinzipien zu beachten:
- Machen Sie sich Ihre eigene Macht im Beratungsverhältnis bewusst und übernehmen Sie Verantwortung dafür.
- Reflektieren Sie die Macht, die Ihr Klient über Sie hat – und setzen Sie ihr innere und äußere Grenzen. Beachten und pflegen Sie Ihre Unabhängigkeit.
- Machen Sie sich bewusst, was die berufliche Nähe zu „Machthabern“ bei Ihnen selbst auslöst.
- Ermutigen Sie Ihre Klienten dazu, Ihre Macht im Sinne der Organisation und ihrer Veränderungsprozesse bewusst und verantwortungsvoll einzusetzen.
- Achten Sie auf durch Machtvakuum entstandene „Unsicherheitszonen“ in der Organisation. Beobachten Sie, was dort geschieht und welche Wirkung es auf die Organisation hat.
- Tragen Sie als Berater dazu bei, die Ausübung von Macht in Organisationen transparent zu gestalten.
Abschließend ein Satz der Ermutigung für Führungskräfte und Berater, ihre Ambivalenz und Berührungsangst gegenüber der Macht zu überwinden. Er stammt vom ehemaligen französischen Kulturminister André Malraux (1901−1976):
Lesetipps:
- Bachmann, Hans Rudolf/ Noll, Peter: Der kleine Machiavelli. Zürich (1987)
- Göhlich, Michael/ König, Eckard/ Schwarzer, Christine (Hg.): Beratung, Macht und organisationales Lernen. Wiesbaden (2007)
- Internetdokument: Macht und Ohnmacht in Organisationen, Hernsteiner – Fachzeitschrift für Managemententwicklung, 2/2001, 14. Jahrgang (http://www.hernstein.at/Media/2001–2_Macht_und_Ohnmacht_in_Organisationen.pdf) Stand: 21.2.2010
[2] Küpper, W./Ortmann, G,: Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen, Opladen, 1992, S. 7
[4] Schwarz, Gerhard: Woher kommt die Macht? in: Hernsteiner, Macht und Ohnmacht in Organisationen (2÷2001)
[5] Beratung und Macht. Mikropolitische Fallstudie einer Organisationsberatung. Dissertation. Vorgelegt von Thomas Muhr, Bielefeld 2004, S. 271
[6] Ebbecke-Nohlen, Andrea: Macht – Verantwortung – Ethik in der Supervision“, Vortrag anlässlich der Tagung der Systemischen Gesellschaft “Supervision zwischen ‘Macht’ und ‘macht nix’?” Berlin, (2003), www.ibs-networld.de