„Neue Arbeit braucht neue Sprache“
15. Februar 2021 von Anna Schulte
Anke und Sarah von The Future Living über ihren Weg zu einer neuen Organisation
Gemeinsam mit Kund*innen (neu) zu denken ist großartig. Gemeinsam mit den Teilnehmenden unserer Ausbildung Beratung und Organisationsentwicklung Komplexität und Zauber von Change-Beratung zu entdecken ebenso. Beides zusammen zu bringen, kreiert ganz besondere Momente.
Innerhalb unseres Ausbildungsmoduls „Agilität und Kooperation“ standen Dr. Anke Bytomski-Guerrier und Sarah Hähnel vom Green-Tech-Startup The Future Living Trainerinnen und Teilnehmenden sehr offen Rede und Antwort zu ihren aktuellen Erfahrungen. Wir geben das Gespräch hier in gekürzter Form wieder.
Anke, warum hast du The Future Living gegründet?
Anke: Eigentlich wollte ich gar nicht gründen. Doch mir wurde immer deutlicher, dass mir nicht nur das „Was“, sondern auch das „Wie“ meiner Arbeit extrem wichtig ist. Mir reicht es nicht, das Thema Nachhaltigkeit in den Fokus meines Tuns zu stellen. Ich möchte das auch in meiner Organisation mit bestimmten Werten verbinden. Da war klar: Gründung ist der einzige Weg.
Was stand bei der Gründung im Mittelpunkt: Kund*innen oder Produkt?
Anke: Weder noch. Mir waren zwei Dinge klar: Ich will beitragen zu einer nachhaltigen Welt. Dabei hat sich unser Ansatz, der Fokus auf Müll, erst nach und nach entwickelt. Und: Ich wollte vor allem mit Frauen (lacht), so international und so hierarchiefrei wie möglich arbeiten.
Wir spielen zwar irgendwie mit in diesem Wirtschaftssystem, aber wir versuchen uns innerhalb dessen so weit wie möglich die Freiheit zu schaffen, unseren Purpose in den Mittelpunkt zu stellen und unsere Werte in der Zusammenarbeit wirklich zu leben. Ich kann nicht das Thema Nachhaltigkeit treiben, ohne auch im Innen stark zu reflektieren, wie zum Beispiel Gerechtigkeit und Respekt innerhalb der Organisation gelebt werden können.
Dabei ändert sich unser Produkt aktuell noch kontinuierlich. Denn unsere Hauptfrage ist nicht „Hat das einen Markt?“ sondern: „Machen wir hier einen positiven Unterschied?“ Und diese Frage leitet uns bis heute in beiden Dimensionen: Im „Was“ und im „Wie“ der Arbeit.
Was ist denn euer Anspruch an das „Wie“ der Zusammenarbeit?
Anke: Besonders deutlich wird es mir immer, wenn ich in Teammeetings z.B. von unserem Teamcoach als „Leader“ angesprochen werde, die die Richtung vorgeben soll. Da zucke ich zusammen – denn das ist ja genau das, was ich nicht möchte. Ich verstehe uns als Gemeinschaft, die unterschiedliche Rollen und Verantwortlichkeiten kennt – aber die Purpose, Produktentwicklung, Ziele gemeinsam gestaltet.
Sarah: In meinen wenigen Wochen bei TLF musste ich mich schon sehr daran gewöhnen, dass Entscheidungen nicht einfach von oben nach unten gereicht werden. Das kannte ich so nicht. Ich bin immer eingeladen mitzugestalten. Zugleich habe ich aber natürlich Ansprechpartner*innen, an die ich mich wenden kann. Aber zunächst war so viel Vertrauen ungewohnt.
“Orientierung ist ein Thema im Agilen Arbeiten”
Wie funktioniert Führung bei euch?
Anke: Wir denken von Anfang an gemeinsam. Das ist für mich ein spannender und herausfordernder Prozess; ich bin ja selbst in traditionellen Unternehmen groß geworden. Ich erlebe es als schmalen Grat zwischen „Orientierung geben“ und zugleich „keine Vorgaben machen“. Ich bringe viel Erfahrung mit und möchte niemanden überfordern. Das ist ein Grund, weshalb wir einen Coach gesucht haben, um uns als Team zu begleiten. Es gibt einfach noch nicht so viele Vorbilder für solche Führungsmodelle in der Unternehmenswelt bisher – daher empfinde ich es als eine andauernde Suche nach dem besten, für uns passenden Weg.
Sarah: Orientierung ist ein Thema. Ich wusste vor lauter Freiheit am Anfang nicht richtig, wo genau anpacken und wen fragen. Der Teamaspekt steht bei uns im Mittelpunkt – schon im Onboarding habe ich das erlebt. Diesen Prozess haben wir beispielsweise gerade umgestaltet – weg von den Gründer*innen hin zu Mitarbeiter*innen, die selbst gerade neu hier angefangen haben zu arbeiten. Das hat super gekappt.
Anke: Aktuell habe ich als Gründerin zum Beispiel den Hut „Finanzen“ auf und gebe Zahlungen frei. In Kürze möchte ich diese Verantwortung auf zwei oder drei Personen erweitern, um die Zentralisierung auf meine Person abzubauen.
Ihr arbeitet als internationales Remote-Team ohne Anweisungen und Vorgaben zusammen. Wie funktioniert das?
Anke: An Tools nutzen wir aktuell Slack zur Kommunikation, Asana für Projektmanagement, ein geteiltes Miro-Board für Entwicklung und Innovation und natürlich eine zentrale Datenablage. Hier gilt das Prinzip: Alle haben Zugriff auf Alles. Abgesehen von personenbezogenen Daten wie Arbeitsverträgen setzen wir auf vollkommene Transparenz.
Als feste Teamformate haben wir ein Monday-Morning-Meeting. Alle, die daran teilnehmen, bringen diszipliniert in zwei Minuten ihre Prioritäten zu drei festen Überschriften auf den Punkt: Was will ich diese Woche für TFL erreichen, wie supporte ich diese Woche das Team, was ist mir für mich persönlich wichtig? Freitags haben wir das so genannte Knowledge-Coffee: Eine*r gibt einen Impuls und teilt das Wissen mit dem Team. Darüber hinaus kann jede*r von uns individuelles Coaching in Anspruch nehmen – weil uns sehr bewusst ist, dass kontinuierliches Lernen Anspruch ist und auch Unterstützung braucht. Tollerweise unterstützen uns die Coaches ehrenamtlich, solange wir selbst als Start-up noch nicht kostendeckend arbeiten, weil sie für die gleiche Sache brennen. Hier erlebe ich Community – auch ein Teil einer „neuen Welt.“
Und wie trefft ihr Entscheidungen?
Anke: Entscheidungsformate sind ein schwieriges Thema, weil wir nicht ewig diskutieren, aber dennoch unsere Werte in Entscheidungsprozessen leben möchten. Ich entscheide extrem gern und habe auch immer viel Stolz daraus gezogen, „einfach mal zu machen“. Das fühlt sich bei The Future Living manchmal etwas ausgebremst an. Wo ist Einzelentscheidung gefragt und wo nicht? Wir wollen nicht alle alles machen, aber zugleich auch möglich machen, dass sich nicht alle Kompetenz auf Einzelpersonen reduziert und es dann doch „traditionell“ wird. Wir probieren viele Modelle und Formate aus, sind aber noch im Prozess.
“Wir müssen mit den Haien schwimmen und möchten dennoch etwas in dieser Wirtschaft ändern”
Ihr sprecht viel von Gemeinschaft – auf der Website firmierst du als CEO. Das klingt eher konventionell.
Anke: Auch das Thema „Sprache“ fordert mich und uns heraus. Ich versuche von „unserem“ Start-Up zu sprechen, nicht von „meinem“. CEO nutze ich intern als Chief Empowerment Officer (lacht). Auch das empfinde ich als eine Suche. Ich glaube, für eine neue Form des Arbeitens brauchen wir neue Narrative. Wir suchen Wege, im Außen ernst genommen zu werden und zugleich deutlich zu machen, womit wir nicht einverstanden sind. Das betrifft ja letztlich auch unsere Dienstleistung.
Wir müssen aktuell mit den Haifischen schwimmen und möchten doch innerhalb dieser Wirtschaft etwas verändern. Wir haben nicht gegründet, um in ein paar Jahren teuer zu verkaufen. Ich denke, hier gelingt Veränderung in kleinen Schritten.
Stichwort Sprache: Was ist für dich „Agilität“?
Anke: Für mich bedeutet agil zu arbeiten, situationsbezogen Tools, Methoden, Prozesse, Führungsstile zu nutzen, die jetzt gerade zum Anliegen des Kunden und den Anforderungen passen. Das bedeutet: Wir dürfen nicht festhalten an starren Prozessen, sondern müssen immer wieder anpassungsfähig sein und gemeinsam die passenden Strukturen schaffen. Im Alltag heißt das für uns: Wir brauchen Geduld, echte Überzeugung und die Bereitschaft, an der eigenen Haltung und am Führungsverhalten zu arbeiten.
In großen Unternehmen habe ich oft erlebt, dass Agilität eher ein Synonym für Methoden war. Da nutzte man gern Post-its, Sprints, Brainstorming… und blieb bei Führung und Prozessen wie gehabt. Das kann aus meiner Sicht nicht gelingen und frustriert. Zugleich ist mir klar: Eine bestehende Organisation zu ändern, ist schwerfälliger als ein Start-Up selbst neu zu gestalten.
Unter welchen Bedingungen lässt sich Agilität deiner Erfahrung nach in bestehenden Organisationen erfolgreich einführen?
Anke: Zuerst einmal muss klar sein: Es startet nicht mit Agilität, sondern mit der Notwendigkeit von Veränderung. Damit neue Arbeitsweisen Einzug halten können, muss ein Unternehmen verstehen, dass es sich verändern muss. Diese Erkenntnis erwächst meist letztlich durch Druck aus dem Markt.
Aber egal wie: eine Organisation mit mehreren hunderten oder tausenden Menschen in der Art und Weise, wie sie arbeiten und führen zu verändern, ist ein langer Weg. Zum einen habe ich erlebt, dass Kultur sich nur langsam ändert, weil eine Organisation natürlich auch bestimmte Menschen anzieht und es dann häufig nur wenige Treiber*innen sind, die wirklich agil arbeiten wollen. Wenn die dann nicht wirklich mit Kompetenzen, Zeit- und Finanzbudgets und Freiheiten fernab der bisherigen Prozesse und Strukturen ausgestattet werden, läuft sich der Versuch agil zu arbeiten schnell tot. Menschen brennen aus, werden frustriert. Ich habe zum Beispiel erlebt, dass Verantwortung im Team nicht real geteilt werden konnte. Das ist im rollenbasierten Arbeiten aber üblich. Ich konnte meinen Mitarbeitenden zwar Verantwortungsbereiche überlassen; unterzeichnen durfte aber weiterhin nur ich als Abteilungsleitung.
Daher bin ich in diesem Punkt recht entschieden: Wenn Agilität in traditionellen Unternehmen funktionieren soll, muss klar sein: „Das ist ein Führungsthema!“ Es geht nicht darum, sich an Methoden festzuhalten und ein bisschen Scrum oder Kanban zu machen. Das habe ich als größte Herausforderung erlebt: Arbeit am Mindset ist ein langer, kontinuierlicher Prozess, der besonders die Führungskräfte sehr fordert. Ohne wirkliches Commitment von ganz oben geht es nicht.
“Agilität funktioniert nicht ohne Commitment aus der Führung”
Du hast ja schon mit unterschiedlichen Berater*innen gearbeitet. Was zeichnet aus deiner Sicht gute Beratung in diesem Kontext aus?
Anke: Ich frage mich in erster Linie: Stimmen die Werte überein, passt das Know-How? Und dann fange ich einfach an und probiere aus. Für mich macht es bei neuen Themen, für die es noch keinen definierten Umgang gibt, immer Sinn, jemanden mit externer Perspektive dazu zu nehmen. Sei es als Moderation oder als Inputgeber*in. Dafür arbeite ich sehr gern mit kleinen und mittleren Beratungen – weil sie mitdenken und aushalten, selbst auf der Suche zu sein. Und dann eine flexible Struktur anbieten und nicht mit fertigen Methoden kommen.
Ich glaube, um zum Thema Agilität und Transformation beraten zu können, brauchen Berater*innen und Coaches zwei Kompetenzen: auszuhalten können, selbst nicht den richtigen Weg oder die beste Lösung zu kennen und trotzdem die Struktur zu geben, um gemeinsam zu lernen.
Sarah: Ich habe schon nach wenigen Wochen im Unternehmen gemerkt, wie hilfreich und wichtig externe Sichtweisen und Spiegel sind. Das immer wieder zur Verfügung zu stellen, finde ich extrem wertvoll.
Über unsere Gesprächspartnerinnen:
Dr. Anke Bytomski-Guerrier kennt als Führungskraft viele Welten – Großkonzerne, mittelständisches Sozialunternehmen oder öffentlicher Dienst. Ihre Erfahrungen mit neuen Formen von Führung und Zusammenarbeit als Gründerin und den Unterschied zu ihren Erfahrungen mit agiler Transformation großer Organisationen teilte sie im Gespräch, zu dem sie „schon aus Prinzip“ nicht alleine kam: Sarah Hähnel, studierte Volkswirtin, teilt ihre Erfahrungen nach wenigen Wochen im Praktikum bei The Future Living.
The Future Living (Mission: “The Future Living supports business and individuals to embrace sustainability as part of their mindset”) vernetzt sich gern mit Interessierten und veranstaltet am vom 03.–07. Mai 2021 die TLF Conference zu „Bold Change“.
Spannende Gesprächspartner*innen bieten wir sicherlich auch für unsere nächste Ausbildungsgruppe wieder an. Der nächste Jahrgang „Beratung und Organisationsentwicklung“ startet im Oktober 2021 – wer Interesse hat, findet hier weitere Informationen. Wir freuen uns auf ein Vorgespräch!