Warhol, Picasso, Kandin­sky – Über den Einsatz von Kunst in der Bera­tung

11. September 2013 von Dirk Jung

Kunst ist, was den Kund*innen nutzt! Es ist gleich­gül­tig, ob Sie alte Meister*innen des Barock, junge Wilde aus New York oder Tribal Art aus Ghana in der Bera­tung verwen­den. Auch ein unde­fi­nier­ba­rer Tonklum­pen aus dem Volks­hoch­schul­kurs ist will­kom­men, sofern Sie damit die gewünschte Wirkung erzie­len. Dafür sollte Ihnen im wört­li­chen Sinne jedes (Kunst-)Mittel recht sein.

Wenn Sie also vom Ergeb­nis her denken, folgen unwei­ger­lich weitere wich­tige Fragen: Welchen Zugang haben Ihre Klient*innen zu Kunst? Wie viel Übung haben sie im „lesen“ von Kunst? Wie viel Inter­pre­ta­ti­ons­hilfe benö­ti­gen Ihre Kund*innen dabei? Welches Kunst­me­dium ist über­haupt geeig­net? Bilder? Skulp­tu­ren? Objekte? Musik? Tanz? Thea­ter?

In diesem Arti­kel wollen wir uns über­wie­gend auf Bilder und Skulp­tu­ren beschrän­ken, unter ande­rem, weil erfah­rungs­ge­mäß die meis­ten Menschen über opti­sche Reize am unmit­tel­bars­ten zu errei­chen sind. Oft ist es dann nur ein klei­ner Schritt, um die Klient*innen von reinen „Interpret*innen“ von Kunst zu akti­ven Gestalter*innen von Kunst zu machen. Aber dazu später mehr. Die meis­ten Wirkun­gen von Kunst in der Bera­tung können einer der fünf folgen­den Kate­go­rien zuge­ord­net werden:

1. Wahr­neh­mung als akti­ves Gestal­ten

Wenn wir den Begriff „Gestal­ten“ durch „Manage­ment“ erset­zen, wird deut­lich, worum es geht: Zum einen wird der „Wahr­neh­mungs­mus­kel“ trai­niert, also das genaue, gedul­dige Schauen und Entde­cken, zum ande­ren wird dem*der Kunstbetrachter*in bewusst, dass er im Akt der Wahr­neh­mung bereits in seinem*ihrem Kopf eine Wirk­lich­keit aktiv konstru­iert, Zusam­men­hänge schafft und Bezüge herstellt, die oft völlig losge­löst von den Absich­ten des*der Künstlers*in sind. Das glei­che Bild löst deshalb bei unter­schied­li­chen Betrach­tern ganz verschie­dene Gefühle, Asso­zia­tio­nen und Bewer­tun­gen aus.

Eine Führungs­kraft, die durch ihr Unter­neh­men geht und „wahr­nimmt“, sammelt nur schein­bar objek­tive Infor­ma­tion. In Wirk­lich­keit erschafft sie in ihrem Kopf diese Orga­ni­sa­tion im Moment der Wahr­neh­mung. Um Führungs­kräfte für diesen menta­len Vorgang, der tagtäg­lich in ihren Köpfen abläuft, zu sensi­bi­li­sie­ren, mag zum Beispiel die inten­sive Betrach­tung des Bildes „Sitzende Frau“ von Pablo Picasso dienen.1

Pablo Picasso, Sitzende Frau 1941
Succes­sion Picasso/ VG Bild-Kunst, Bonn 2011

Was Picasso in diesem Bild geschaf­fen hat, nennt man in der Kunst­spra­che „Dekom­po­si­tion“, das „Ausein­an­der­neh­men“ von schein­bar unab­än­der­lich zusam­men­ge­hö­ren­den Elemen­ten. Dies löste bei seinen Zeit­ge­nos­sen sehr kontro­verse Gefühle aus: Der Titel „Sitzende Frau“ lässt zunächst etwas „Schö­nes“, Harmo­ni­sches erwar­ten, und tatsäch­lich aber sitzt bei der Frau kein Körper­teil an seinem „rich­ti­gen“ Platz. Ist deswe­gen die Frau „häss­lich“ oder ist das Bild „häss­lich“? Der*die Betrach­tende rekon­stru­iert in seinem*ihrem Kopf das Bild, indem er*sie eine „rich­tige“, „schöne“ Frau als Vergleichs­maß­stab heran­zieht.

Man nennt Picas­sos Tech­nik auch „Poly­per­spek­ti­vis­mus“, also der Versuch, die Einzel­teile eines in Bewe­gung befind­li­chen Körpers gleich­zei­tig darzu­stel­len – um den Preis, dass die „Schön­heit“ des harmo­ni­schen Bildes aufge­löst und dem*der Betrachter*in ein schein­bar chao­ti­sches Bild zuge­mu­tet wird.

Nun stel­len Sie sich Führungs­kräfte vor, die über das innere Bild nach­den­ken, das sie von ihrer Orga­ni­sa­tion im Kopf haben: Welches unbe­wusste Bild einer „schö­nen“ Orga­ni­sa­tion trägt jeder mit sich herum? Wenn sich alle Teile in Bewe­gung befin­den – wie können sie das Ganze noch erken­nen? Wäre das Bild einer statisch sitzen­den, „schö­nen“ Orga­ni­sa­tion nicht eine Illu­sion? Ist die Orga­ni­sa­tion „häss­lich“ oder nur das inne­res Bild, das sich die Führungs­kraft von ihr macht?

2. In Prozes­sen denken

Die Manage­ment­be­ra­te­rin Mariott Stoll­stei­ner lässt ihre Kund*innen spüren, dass das Erschaf­fen von Kunst (und von Orga­ni­sa­tio­nen) ein Prozess ist, indem sie diese dazu anlei­tet, in Paaren schwei­gend und abwech­selnd ein gemein­sa­mes Bild zu erstel­len.2

Zum Beispiel zum Thema „Perso­nal­ent­wick­lung“ – einer der beiden Manager*innen beginnt und über­gibt den Stift nach einer Minute an seinen*ihre Partner*in – und so geht es eine ganze Zeit im Wech­sel weiter, bis beide das Gefühl haben, einen vorläu­fi­gen Halte­punkt erreicht zu haben. Diese sinn­li­che Erfah­rung des gemein­sa­men prozess­haf­ten Erschaf­fens wirkt stär­ker nach als jeder theo­re­ti­sche Vortrag zu diesem Thema.

Nicht weni­ger eindrück­lich ist ein Film von nur 20 Minu­ten, den im Jahr 1950 Paul Haesaerts mit Picasso gedreht hat („Visit to Picasso“).3 Der Film ist auch im Inter­net verfüg­bar. Dabei sieht die Kamera Picasso von der Rück­seite einer Glas­scheibe dabei zu, wie er spie­le­risch zahl­rei­che Bilder darauf malt. Die Zuschauer*innen erlebt haut­nah, wie Kunst entsteht und vom Künst­ler immer wieder zerstört wird, um etwas Neues daraus zu schaf­fen. Wunder­bare Stier­kampf­sze­nen – „stopp, perfekt, ich kaufe das Bild!“ möchte der*die Betrachter*in rufen – werden mit einem lässi­gen Pinsel­schwung wieder über­malt und in neue Szenen über­führt. Unter jedem Bild, das der*die Betrachter*in sehen kann, liegen viele andere Bilder, die für einen flüch­ti­gen Moment entstan­den sind und dann krea­tiv vernich­tet wurden.

Es ist nicht schwer, sich vorzu­stel­len, wie dieser Film bei der Bera­tung eines Change Prozes­ses in einem Unter­neh­men einge­setzt werden könnte. Wie viele „Bilder“ liegen unter dem Bild der Orga­ni­sa­tion, das man heute sehen kann? Wer malt? Wie werden die kommen­den Bilder sein? Wie ist der Prozess des „Malens“ orga­ni­siert?

3. Das Ganze im Blick

Eine der wich­tigs­ten Aufga­ben der Manage­ment­be­ra­tung ist es, den Klient*innen bei der Bewäl­ti­gung von orga­ni­sa­to­ri­scher Komple­xi­tät zu helfen und ihn den Blick „aufs Ganze“ zurück­ge­win­nen zu lassen. Und umge­kehrt, Führungs­kräfte soll­ten sich bewusst machen, welche Wirkung ihr Verhal­ten auf die gesamte Orga­ni­sa­tion haben kann.

Schloss im Wald zu bauen, Paul Klee ‚1926; Staats­ga­le­rie Stutt­gart

Stel­len Sie sich als Beispiel das Work­shop­thema „Verhält­nis von Zentrale und Außen­struk­tur“ vor. In Ihrem Work­shop inter­pre­tie­ren die Teil­neh­men­den das nach­ste­hende Bild von Paul Klee und bezie­hen es auf ihr Thema. Diese Refle­xi­ons­ar­beit könnte zu folgen­den Gedan­ken führen: „Zu den Rändern hin weist das Bild wenig Ordnung auf. In der Mitte hinge­gen finden sich Linien zu Recht­ecken geord­net. Man stellt fest, dass alle Struk­tu­ren der Peri­phe­rie von dieser kaum auffal­len­den Mitte ihre innere Ordnung erhal­ten. Ja, es scheint, dass die Struk­tu­ren ringsum ihre Eigen­dy­na­mik desto unbe­fan­ge­ner entfal­ten, je mehr sie sich der regeln­den Ordnungs­kraft des Zentrums sicher sein können. Doch das zeigt sich nicht als passive und sture Geord­ne­t­heit. (…) Die Zentrale domi­niert nicht, ist aber alles andere als tot. Von ihr gehen ordnende Wirkun­gen auf alle Formen der Peri­phe­rie aus. (…) Kaum etwas drückt das Verhält­nis von Zentrale und einzel­nen Abtei­lun­gen in gegen­warts­ge­mäß dezen­tral orga­ni­sier­ten Unter­neh­mens­struk­tu­ren anschau­li­cher aus als dieses Bild.“4

4. Inno­va­ti­ves Sehen und neue Perspek­ti­ven

Henry Moore: Nuclear Energy
Campus der Univer­si­tät Chicago

Stel­len Sie eine Skulp­tur in die Mitte des Raumes (es muss ja nicht gleich eine tonnen­schwere Bron­ze­plas­tik von Henry Moore sein…). Plat­zie­ren Sie Ihre Work­shop­teil­neh­men­den in drei oder vier Ecken des Saales, zum Beispiel grup­piert nach den Abtei­lun­gen Entwick­lung, Produk­tion und Vertrieb, und lassen Sie sie Zeich­nun­gen davon anfer­ti­gen, wie sie die Skulp­tur jeweils sehen. Anschlie­ßend verglei­chen die Teil­neh­men­den ihre „Ansich­ten“ und disku­tie­ren die Schwie­rig­kei­ten und auch die Möglich­kei­ten, das „Ganze“ zu erken­nen.

In einem nächs­ten Schritt zeich­nen die Teil­neh­men­den ein Bild ihrer Orga­ni­sa­tion, so wie sie diese in ihrer tägli­chen Arbeit wahr­neh­men. Auch hier verglei­chen die Teil­neh­men­den dann ihre jewei­li­gen unter­schied­li­chen Perspek­ti­ven und versu­chen anschlie­ßend, die „ganze“ Orga­ni­sa­tion gemein­sam zu rekon­stru­ie­ren.

Quelle: Wiki­pe­dia

Zu inter­es­san­ten Erkennt­nis­sen führt häufig der Einsatz von so genann­ten Vexier­bil­dern. Das Thema hier ist das Verhält­nis von Vorder­grund und Hinter­grund. Je nach­dem, worauf man schaut, entste­hen unter­schied­li­che Eindrü­cke und Infor­ma­tio­nen. Was steht im Unter­neh­men im Vorder­grund? Vor welchem Hinter­grund wird es wahr­ge­nom­men? Was geschähe, wenn wir den Hinter­grund verän­dern?

Schauen Sie einmal auf dieses Vexier­bild „All is Vanity” von C. Allan Gilbert. Sehen Sie, wie nahe Schön­heit und Tod beiein­an­der liegen?

5. Dialoge öffnen

Stel­len Sie sich vor, deut­sche und afri­ka­ni­sche Führungs­kräfte betrach­ten eine halbe Stunde lang ein Bild und erzäh­len sich gegen­sei­tig, was sie darin erken­nen und was das viel­leicht mit ihrem gemein­sa­men Projekt zu tun hat. In einem Planungs­work­shop neulich in Ghana haben wir genau das auspro­biert. Entschei­dend ist dabei der Moment der Lange­weile, wenn beide Partner*innen das Gefühl haben, „alles“ aufge­zählt zu haben, was auf dem Bild zu erken­nen ist. Dann erst beginnt das eigent­li­che „Sehen“. Zwei wesent­li­che Wirkun­gen dieser zunächst schwei­gen­den und dann sehr bered­ten Kunst­be­trach­tung konn­ten wir fest­stel­len:

Erstaun­lich früh wurden im Planungs­pro­zess Risi­ken aus dem Projekt­um­feld ange­spro­chen. Ein*e afrikanische*r Manager*in erkannte ein Kroko­dil, das den Hühnern (bzw. der Projekt­ziel­gruppe) auflau­ert. Ein*e weitere*r Teilnehmende*r sah den Dschun­gel, das Chaos, gleich außer­halb des Projek­tes, das das harmo­ni­sche Zusam­men­le­ben der verschie­de­nen Arten bedrohte. Diese bild­haf­ten Aussa­gen ermög­lich­ten es, im Laufe des gemein­sa­men Planungs­pro­zes­ses solche Bilder als sprach­li­che Anker zur Bear­bei­tung der Risi­ken zu nutzen.

Dadurch, dass unter­schied­li­che Sicht­wei­sen ausdrück­lich erlaubt, ja erwünscht sind, erleb­ten wir als zweite Wirkung des Dialogs die entspannte Darstel­lung sehr persön­li­cher Gedan­ken. So war es den Teil­neh­men­den möglich, einen inter­kul­tu­rel­len Dialog nicht nur über ihr Projekt­ma­nage­ment sondern auch über den Einfluss von Gott und Reli­gion auf ihr gemein­sa­mes Tun zu führen – ein Thema, das sonst in dem tief reli­giö­sen Ghana von den meist säku­la­ren inter­na­tio­na­len Exper­ten eher folk­lo­ris­tisch betrach­tet wird. Eine afri­ka­ni­sche Führungs­kraft entdeckte in der rech­ten Bild­hälfte ein Gesicht im Hinter­grund und erkannte darin Gott, der hinter allem verbor­gen ist.

Poten­tiale erken­nen und nutzen

Apoleia; ohne Titel; Privat­be­sitz

Im Grunde geht es bei fast allen Anwen­dun­gen von Kunst in der Bera­tung um die Über­set­zung analo­ger Darstel­lung in die digi­tale Spra­che des Manage­ments und umge­kehrt. Die Künstler*innen selbst sind dazu häufig nicht in der Lage, da sie allzu sehr in ihrer Symbol­spra­che verhaf­tet sind und sich schwer damit tun, ihre Werke in der Spra­che von Stra­te­gie, Orga­ni­sa­tion und Busi­ness zu „erklä­ren“. Nicht selten haben sie sogar einen ausge­spro­che­nen Wider­wil­len dage­gen.

Der*die Bera­tende muss daher diese Trans­fer­leis­tung aktiv unter­stüt­zen, geeig­nete Objekte auswäh­len, den Themen­rah­men setzen und durch Fragen und Provo­ka­tion dafür sorgen, dass das inno­va­tive Poten­tial von Kunst für den Bera­tungs­pro­zess opti­mal ausge­schöpft werden kann.

Autor*innen: Dirk Jung und Susanne Giese5

1 Das Beispiel wurde entnom­men: Bockemühl/Scheffold: Das Wie am Was. Bera­tung und Kunst, Frankfurt/M. 2007
2 M. Stoll­stei­ner: Das A.R.T.-Prinzip. Vom Nutzen der Kunst im Unter­neh­men. Wies­ba­den 2008
3 Siehe: http://docsonline.tv/?search=Visit%20to%20Picasso&type=title&docinfo=133
4 Bockemühl/Scheffold 2007, S.59
5 Susanne Giese ist Koor­di­na­to­rin der Förde­rung der Zivil­ge­sell­schaft bei der Deut­schen Gesell­schaft für Inter­na­tio­nale Zusam­men­ar­beit (GIZ) in Ghana