Langeweile und Muße in der Organisationsberatung
5. September 2018 von Dirk Jung
Schauen wir in die aktuelle Beratungs- und Managementliteratur, so scheinen alle Beteiligten irgendwie schrecklich unter Strom zu stehen: Es geht um Agilität, Motivation, hoch effiziente Teams, optimierte Prozesse und permanenten Wandel. Keiner redet über Langeweile. Das könnte unter anderem daran liegen, dass Langeweile in Organisationen so einen negativen Beigeschmack hat. Obwohl sie dort reichlich und in unterschiedlichen Verkleidungen anzutreffen ist. Übrigens: auch Beratende langweilen sich manchmal, wenn sie beim Kunden sind (und sprechen auch nicht darüber…).
Was unterscheidet Muße von Langeweile? Und was hat das alles mit Beratung, konkret mit dem Instrument der Organisationsdiagnose als Teil von Organisationsentwicklung zu tun? Wir finden das spannend und widmen dem Thema daher einen Artikel. Wenn Sie das jetzt schon langweilt, hören Sie am besten JETZT auf zu lesen.
Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher,
Blaise Pascal, 1662
dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.
Geschäftigkeit, Langeweile und Muße
Die alten Römer hatten’s richtig drauf: Sie definierten Geschäft und Geschäftigkeit (lat. neg-otium) nämlich als die Abwesenheit, also das Fehlen dessen, was wichtig ist, nämlich der Muße (lat. otium). Im Industriezeitalter drehten sich diese Verhältnisse dann offenbar um, wie es z.B. die marxistische Theorie mit dem Begriffspaar von Produktion und Reproduktion auszudrücken versucht. Im Zentrum stehen Arbeit und Produktivität während die Re-Produktion dem Erhalt und der Wiedererlangung der Kräfte für die Produktion dient.
Aktuell setzt – auch in der Beratungsbranche – ein Nachdenken darüber ein, wie das sinnfreie Nichtstun („eine verschüttgegangene Kulturtechnik“[1]) wiederentdeckt und gerettet werden kann: „Phasen des Müßiggangs sind schöpferische Zustände – ohne sie kann das Hirn sich nicht von der stressbedingten Reizüberflutung erholen und wird unproduktiv. Das bedeutet folglich im Umkehrschluss, dass wir gerade beim sinnbefreiten Nichtstun auf sinnige Ideen stoßen.“[2] Im letzten Halbsatz zeichnet sich sogleich auch die Gefahr ab: Wir funktionalisieren das sinnbefreite Nichtstun vielleicht so sehr, dass wir uns selbst damit ins Knie schießen. Ich tue jetzt mal sinnbefreit gar nichts, damit ich auf richtig tolle Geschäftsideen komme. So läuft das leider nicht.
Und dann hätten wir noch die Langeweile, die hässliche Schwester der Muße. Auch hier ist sinnentleerte Zeit reichlich vorhanden, aber unfreiwillig, sie wird von den Betreffenden als unangenehm, als peinlich und als vergeudete Lebenszeit empfunden. Sie richtet bei Organisationen und ihren Mitarbeitenden großen Schaden an, mental und wirtschaftlich. Daher schauen wir uns das im Folgenden genauer an.
Zwei Grundformen der Langeweile – und die Theorie dazu
Die Arbeitswelt, in die wir als Beratende eintauchen, hält unterschiedliche Erscheinungsformen von Langeweile bereit. Die beiden hier beschriebenen Grundformen haben gleichermaßen den Effekt, dass sie Energien binden, Entwicklung verhindern und Potenziale vergeuden.
Variante 1: Mehr Zeit als Arbeit
Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um ein Problem der Unterauslastung eines Arbeitsplatzes, d.h. die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit wird nur zu einem geringen Teil durch Aktivitäten genutzt, die im Sinne der Organisationsziele sind. Der Rest wird individuell „gefüllt“. Durch Computerspiele, Kaffeekochen, langsames Ausführen von Tätigkeiten, die sonst nur die halbe Zeit brauchen würden oder durch überproportionale Kommunikation. Hoch motivierte Mitarbeiter vertrocknen auf solchen Arbeitsplätzen, andere wiederum verfallen in eine Art energetischen „Standby–Modus“. Tragisches Schicksal vieler Praktikanten: Sie treten hochmotiviert ihre Arbeit an und dann weiß keiner so recht, womit man sie beschäftigen soll, weil es keine durchdachte Tätigkeitsbeschreibung gibt. Oder die vielen „Warte-Berufe“ wie z.B. Taxifahrer oder Feuerwehrleute, die von der Natur ihrer Tätigkeit her oft lange Phasen der relativen Untätigkeit überbrücken müssen. Und natürlich gibt es hierfür schon eine „Syndrom“-Bezeichnung, nämlich das „Bore-out“-Syndrom[3], sozusagen das Gegenstück zum „Burn-out“.
Variante 2: Hamster im Laufrad
Diese Variante ist für Organisations- und Personalentwickler eine besondere Herausforderung. Die Menschen wirken äußerlich hochbeschäftigt und gestresst, stehen unter Druck, müssen Termine einhalten – und langweilen sich dabei doch endlos: man denke z.B. an Paketboten, Fließbandarbeiter, Kellner, Küchenhilfen, aber auch Lehrer oder Managementtrainerinnen, die zum hundertsten Mal den gleichen Stoff vortragen müssen. Man kann die Reihe noch lange fortsetzen, bevor man sich andererseits daran erinnert, dass man auch schon hochmotivierte Kellner und Kellnerinnen getroffen hat, Paketboten, die einem federnden Schrittes und gut gelaunt an der Tür begegnen, oder unermüdlich begeisternde Lehrer. Es ist also nicht die Tätigkeit selbst, die ein Gefühl der Ödnis und Leere erzeugt, sondern ihre Verknüpfung mit den inneren Werten und Fähigkeiten der betreffenden Menschen.
In der Motivationstheorie spricht man hier von „Eustress“, d.h. „gutem“ Stress, der aktiviert und in Schwung hält und „Distress“, also „schlechtem“ Stress, der zu Herzinfarkten und „Burn-out“ führen kann.
Nun die Theorie dazu: Der bekannte „Glücksforscher“ mit dem herausfordernden Namen Mihály Csíkszentmihályi gilt als Schöpfer der Flow-Theorie, die in sehr einfacher und deshalb nachvollziehbarer Weise beschreibt, wie sich adrenalingetränkte Euphorie in lähmende Langeweile verwandelt. Die nachstehende Graphik illustriert diesen Prozess.
Auf der x‑Achse sehen wir die Kompetenz, mit der jemand eine bestimmte Aufgabe erfüllt. Auf der y‑Achse ist die relative Schwierigkeit dieser Aufgabe abgetragen. Von links unten nach rechts oben verläuft die so genannte „Flow“-Zone, in der Menschen und Teams sich motiviert, stimuliert, ja sogar glücklich fühlen. Wie funktioniert das?
Steigen Sie gedanklich irgendwo links auf der X‑Achse und auf einer beliebigen „Flughöhe“ der y‑Achse (=Schwierigkeitsgrad der Aufgabe) ein. Stellen Sie sich vor, Sie übernehmen eine neue Tätigkeit, die Sie vorher noch nie gemacht haben. Zum Beispiel Kellnern in einem Restaurant. Alles ist neu, Sie sind voll im (Dis)Stress, es ist komplex, chaotisch, nervig, die Kunden rufen, die Teller fallen, die Köche schimpfen. Sie fühlen sich völlig überfordert. Wandern Sie jetzt gedanklich weiter nach rechts. Sie haben jetzt Praxis, Erfahrung und Routine gewonnen. Es „flutscht“, Sie bewegen sich fast tänzerisch zwischen den Tischen, scherzen mit den Gästen, haben die Abläufe voll im Griff. Es geht Ihnen damit richtig gut, weil Sie spüren, wie die Herausforderungen und Ihre erworbene Kompetenz miteinander Tango tanzen. Sie sind im „Flow“!
Und nun bewegen wir uns noch weiter nach rechts. Sie arbeiten schon 10 Jahre in diesem Restaurant, Sie kennen alle Abläufe, alle Gästereaktionen, alle Launen des Kochs in- und auswendig. Sie fühlen sich wie ein Kellner-Roboter, die Zicken der Gäste nerven Sie, Sie schauen schon vor Schichtbeginn auf die Uhr.
Das muss nicht automatisch so ablaufen – viele Mitarbeitende halten den Flow über lange Zeit trotz Routinen. Sowohl aus individueller Sicht als auch aus Sicht der Organisation ist es wünschenswert, dass sich so viele Mitarbeitende wie möglich motiviert und genau richtig gefordert fühlen.
Organisationsdiagnose: Menschen mit Langeweile
In einer Organisation treffen wir üblicherweise drei Kategorien von Mitarbeitenden an: die im Überforderungsstatus, die im Flow und diejenigen im Zustand der Langeweile. Letztere bedürfen aus mehreren Gründen der besonderen Aufmerksamkeit der Beratung und der Führung, denn
- sie haben z.T. über Jahre hinweg eine hohe Kompetenz erworben, ohne dass das Unternehmen diese Ressource aktuell wirklich nutzen kann,
- sie glauben, dass sie sich im Unternehmen nicht mehr verwirklichen können, nicht mehr wachsen können,
- sie arbeiten deshalb oft im Stand der „inneren Kündigung“ oder suchen nach neuen Herausforderungen außerhalb des Unternehmens („Mein Leben beginnt nach 17.00 Uhr“, sagte uns einmal ein solcher Mitarbeiter.)
Das Zauberwort heißt hier „Personalentwicklung“ – also das permanente Nachsteuern von Kompetenzentwicklung und Anforderungen am Arbeitsplatz. Oder im Sinne der obigen Graphik: Das kontinuierliche „Liften“ von Mitarbeitenden, die sich im Langeweile-Segment befinden, „nach oben“, d.h. in die Flow-Zone durch behutsame Erhöhung der Herausforderungen.
Eine wirkungsvolle Beratungsintervention im Rahmen der Organisationsdiagnose kann beispielsweise darin bestehen, der Führungsebene eine Einschätzung zu präsentieren, wie viel Prozent der Mitarbeitenden sich in welcher der drei Zonen befinden.
Langeweile als Chance
Machen wir nun gedanklich ein Experiment zusammen: Stellen Sie sich vor, Sie fahren 90 Minuten lang mit der Berliner S‑Bahn. Anstatt – wie die meisten Mitreisenden – etwas zu lesen oder mit dem Handy zu spielen tun Sie NICHTS. Was passiert nun in Ihrem Kopf? Dieser Kopf schafft sich oder sucht sich neues Futter, entweder durch Blick nach innen oder Blick nach außen. Im Blick nach innen rekapitulieren Sie z.B. das gestern Erlebte spielen ungelöste Probleme durch oder bereiten sich geistig auf das Kommende vor. Vielleicht kommen Ihnen dabei völlig neue Ideen und Lösungen in den Sinn, einfach, weil Sie Ihr Gehirn nicht mit WhatsApp, online Nachrichtenportalen oder Musik verstopfen.
Oder Ihr Gehirn richtet seine Aufmerksamkeit nach außen, um dort neues Futter zu bekommen. Sie betrachten Ihre Mitreisenden intensiver als sonst. Erst ein grobes Scanning der Gesichter. Sie differenzieren vielleicht zwischen sympathisch und unsympathisch, interessant und uninteressant. Sie bilden vielleicht Hypothesen über einzelne Personen – Frustriert? Müde? Alleine? Verliebt? Wenn die Reise noch länger dauert, werden Ihre Beobachtungen detaillierter: die Schuhe, die Tasche, die Reiselektüre, das Tattoo. Mit anderen Worten, Sie schauen genauer hin als sonst. Und das nur, weil Sie sonst nichts anderes zu tun haben.
Wie wäre es, wenn man die Mitarbeitenden einer Organisation für eine bestimmte Zeit in einen solchen Zustand versetzt? Wie verändern sich deren Wahrnehmungen und Gedanken? Wie kann man die produktive Kraft der Langeweile beraterisch nutzen? Anders ausgedrückt: Wie können wir negative Langeweile in positive Muße verwandeln?
Wir haben auf diese Fragen noch keine fertigen Antworten und freuen uns daher über jede Anregung unserer Leser.
Einfach mal die Klappe halten. Langeweile als Methode
Zen-Meditation z.B. hat nichts „anzubieten“ außer Sitzen und Atmen. Und trotzdem „wirkt“ es seit 1000 Jahren. Auch für Gruppen und Teams gibt es einige Ansätze, um eine offene, scheinbar leere Zeit zu schaffen. Hier drei Beispiele für Teams sowohl in Workshops oder auch festen Routinen nutzbar:
- Der Schweigespaziergang. Die Teilnehmer spazieren eine Stunde oder zwei schweigend durch die Gegend. Wenn das übliche Geplapper verstummt, entsteht zunächst eine als unangenehm empfundene Stille, danach eine dichte, die Gruppe umhüllende Ruhe, in der jeder Teilnehmende seinen Gedanken nachgehen kann. Und somit vielleicht auf neue Gedanken kommt. Diese Methode ist eng verwandt mit der alten Kunst des Flanierens: „Kernidee des Flanierens war es, sich treiben und den Blick schweifen zu lassen, sowie Details wahrzunehmen, aus denen sich Reflexionen über die Umgebung ableiten ließen. Das Gehtempo war laut Walter Benjamin idealerweise dem einer Schildkröte angepasst…“[4]
- Bildbetrachtung in Paaren: Jeweils zwei Teilnehmende sitzen – bevorzugt in einer Galerie oder im Kunstmuseum – vor einem Gemälde und erzählen sich gegenseitig im Wechsel, was sie auf einem Bild sehen. Sie haben dafür reichlich Zeit. Zunächst geht alles flott voran, dann aber haben die beiden irgendwann ihr Pulver verschossen, alles Offensichtliche ist gesagt. Und es ist noch sehr viel Zeit übrig. Es entsteht ein Moment der Ratlosigkeit, die beiden werden meist unruhig, der Job scheint erledigt, sie wollen jetzt Kaffee trinken gehen. Der Trainer nötigt sie aber dazu, weiter zu machen. Sie dürfen auch nicht das Thema wechseln, um die „Zeit zu füllen“ – es darf nur um das Bild gehen und das, was sie darauf erkennen können. Viele Teilnehmende erleben diesen Umkipp-Punkt als intensiv und intim, insbesondere, wenn ihr Gegenüber ein Arbeitskollege ist, mit dem sie bis dahin lediglich eine distanzierte „professionelle“ Beziehung unterhielten. Es entsteht neue Nähe durch „Leere“.
- Der „denk-Tag“. Wir von denkmodell führen 3–4 Mal im Jahr einen Bürotag durch, zu dem alle Mitarbeitenden eingeladen sind. Bedingung ihres Teilnehmens: keine Arbeit an Kundenprojekten, keine Telefonate…. Darüber hinaus gibt es keine Vorgaben, wie sie den Tag gestalten. Sie können ihn ohne Leistungsdruck – wenn sie das wollen – kaugummikauend am Schreibtisch verbringen oder etwas mit anderen Kollegen unternehmen, ein neues Konzept entwickeln, ein Möbelstück bauen, ein Buch lesen…. Dahinter steckt die Idee, dass innovative Ideen – seien sie groß oder klein – im operativen Getümmel des Alltags wenig Chancen haben und eine „lange Weile“ benötigen, damit sie gedeihen können. Und dass eben auch (kollegiale) Begegnungen und wirklicher Austausch oftmals nicht „nebenbei“ geschehen, sondern Raum brauchen, um entstehen zu können.
Muße als Teil des Beratungsangebots – nicht einfach zu verkaufen
Der Methodenstandard, mit dem heutzutage die meisten Workshops, Team-Retreats, Klausurtagungen, o.ä. durchgeführt werden, folgt den Regeln der modernen Erwachsenenpädagogik: Interaktiv soll es sein, mit häufigem Methodenwechsel, mit unterschiedlichen Visualisierungen und Medien, mit Energizern gegen die Mittagsmüdigkeit. Dieses Paradigma war und ist eine gute und sinnvolle Reaktion auf die öde Workshop“kultur“ der 70iger Jahre: Vortrag mit gefühlten 100 Overheadfolien, Diskussion, Kaffeepause. Die Aufmerksamkeitsspanne der TikTok-Generation soll ja angeblich immer kürzer werden. Als Trainerinnen und Moderatoren reagieren wir darauf häufig, indem wir Drehbücher immer schneller takten, um das Energieniveau in der Gruppe hoch zu halten. Die Teilnehmenden solcher Veranstaltungen danken es ihnen meist mit Lobesworten wie „Ich habe gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergeht!“ oder „Ich habe mich keine Sekunde gelangweilt.“
Aber welcher Beratende traut sich schon, seinem Auftraggeber für ein Teamwochenende ein leeres Blatt als Konzept abzugeben? Traut sich zu sagen: Wir kommen zusammen und schauen mal was passiert! Der nichts gestaltet, nichts strukturiert, kein Infotainment-Feuerwerk abbrennt? Der das Risiko eingeht, dass man sich miteinander LANGWEILT! Mit der Chance, dass das am Ende alle ganz toll gefunden haben… Wir haben das bisher noch nicht ausprobiert. Phasen von Muße und Langsamkeit hingegen versuchen wir bewusst einzuplanen – um dem Alltagsrauschen etwas entgegenzusetzen. Leicht zu verkaufen ist das nicht unbedingt – wirksam hingegen sehr wohl.
Quellen:
[1] Laura Erler: „Der Sinn des Sinnbefreiten“, in: Zeitschrift Neue Narrative #02, S. 48–53
[2] ebenda
[3] Philippe Rothlin, Peter R. Werder: Diagnose Boreout, warum Unterforderung im Job krank macht, Redline, München 2007, ISBN 978−3−636−01462−7.
[4] Laura Erler, ebda.