Mindful managen? Über Achtsamkeit, Führung und Lehren aus der Pandemie
13. September 2021 von Carina Waldhoff
Lucia Stall ist Beraterin, Trainerin und Teamleiterin bei denkmodell. Achtsamkeit bzw. Mindfulness (einführender Beitrag von Irene Ossa hier) ist nicht nur ihr persönliches Steckenpferd; sie integriert das Konzept auch zunehmend in unsere Beratungs- und Trainingsangebote.
Lucia, Führungskräfte sind aktuell fast überall mit großen Transformationsvorhaben, zum Beispiel durch Veränderungen der Arbeitswelt, Digitalisierung und die Pandemie, beschäftigt. Sind „Achtsamkeit“ und „Mindfulness“ da nicht eher „schmückendes Beiwerk“ als hilfreiche neue Konzepte?
Meiner Meinung nach war Mindfulness noch nie so wichtig und hilfreich wie heute. Wenn wir uns mit Resilienz, Inner Work, Nutzen der Intuition, Compassionate Leadership beschäftigen – also Dingen, die im Rahmen von „New Work“ an Bedeutung gewinnen, wird deutlich, dass Mindfulness die Grundlage für diese Ansätze bildet. Jedes dieser Konzepte setzt die Fähigkeit voraus, den gegenwärtigen Augenblick wahrzunehmen und mit sich selbst im Kontakt, also achtsam, zu sein.
Einige Global Player wie SAP, Google oder SAP haben Mindfulness fest in ihre Trainings- und Weiterbildungsangebote integriert. Welchen wirtschaftlichen Nutzen verbinden sie damit?
Gesundheit ist ein kostbares Gut, auch aus Unternehmenssicht. Denk‘ nur an steigende Burnout-Raten, psychische Belastungen im Zusammenhang mit Corona oder Depressionen, die die WHO zur weltweit häufigsten Todesursache erklärt hat ( https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/depression ). Dass Mindfulness positiv auf unsere Gesundheit einwirkt, zeigen immer mehr Studien. Der iga-Report einiger Kranken- und Unfallversicherer beispielsweise zeigt deutlich positive Effekte auf unsere psychische Gesundheit, vor allem durch ein sinkendes persönliches Stresserleben.
Was glaubst du: Hat die Corona-Pandemie eher zu mehr Entschleunigung oder zu noch mehr Stress geführt?
Ich sehe beides: Vereinzelt habe ich im letzten Frühjahr, nach den ersten Lockdown-Wochen, Stimmen gehört, die von Entschleunigung sprachen. Für viele von uns galt aber zumindest im Arbeitsalltag das Gegenteil: Unsere Tage waren auch vor Corona häufig überfrachtet, aber wir hatten zwischen Meeting und Kund*innen-Gesprächen zumindest die Fahrtzeit in der Bahn oder mindestens einen Wechsel in den nächsten Besprechungsraum, in eine andere Atmosphäre. Dank Homeoffice switchen wir nun innerhalb von Sekunden mit nur drei Klicks von der einen Gruppe in die nächste, mit völlig anderen Menschen, Themen und eigenem Empfinden. Zwischendurch geht noch kurz der Blick zu Postfach, Handy und ein Ohr Richtung Kinderzimmer.
Ich habe in einem deiner Achtsamkeits-Seminare gelernt, dass dieses „Multitasking“ nicht Übungssache, sondern Mythos ist.
Stimmt, das ist mittlerweile klar belegt: Wie sind nicht zu Multitasking-fähig – wenn überhaupt, machen wir „high sequential tasking“. Das ist sehr ermüdend. Das letzte Jahr hat dies, neben unserer offensichtlichen physischen Verwundbarkeit, deutlich zu Tage befördert an vielen Arbeitsplätzen.
Ich hoffe, dass die Frage „Wie geht es dir (wirklich)“? in vielen Arbeitsfeldern jetzt den Alltag erobert hat und die Erkenntnis, dass die gegenseitige Unterstützung in Teams eine Schlüsselqualifikation zum Stemmen der Situation wurde, „hängen bleibt“ aus dieser anstrengenden Zeit.
Was ist aus deiner Sicht die wichtigste Botschaft des vergangenen Jahres?
Die Message dieser Zeit lautet für mich: „Du musst gut für dich sorgen!“ Letztlich ist jede*r einzelne von uns gefordert, das ernst zu nehmen. Achtsamkeit bietet die Möglichkeit, eigene Empfindungen nicht erst wahrzunehmen, wenn sie gar nicht mehr zu überhören sind, sondern ihnen regelmäßig bewusst Raum zu geben und frühzeitig reagieren zu können. Nicht nur in Krisenzeiten, sondern auch darüber hinaus hilft uns dieser Ansatz, in herausfordernden Situationen das Beeinflussbare von dem zu unterscheiden, was wir nicht ändern können. Auch negative Gedanken und Gefühle anzunehmen und einen guten Umgang mit ihnen zu erlernen, gehört absolut dazu. Mindfulness ermöglicht uns, anstelle von reaktivem Verhalten selbstgesteuerte Aufmerksamkeit zu kultivieren und dadurch unseren Lebensinhalt aktiv zu gestalten.
Du bist eine treibende Kraft, wenn es darum geht, Achtsamkeit in der Arbeit von denkmodell zu etablieren. Woran merken Team und Kund*innen das?
Im Team arbeiten wir mit bewussten Einstiegen in Teamrunden und Minuten der Stille. Je nach Kontext bieten wir unseren Teilnehmer*innen in Trainings und Workshops immer wieder bewusst kurze Momente des eigenen Erlebens und Innehaltens. Dies ermöglicht neben Fokussierung und Präsenz auch die Möglichkeit, innere, manchmal nicht sofort präsente, Stimmen mit in anschließende Diskussionen zu bringen.
Auch ganzen Teams bieten wir an, Mindfulness explizit einzubeziehen. Insbesondere momentan in ersten Team-Workshops „nach Corona“ ist es hilfreich, zunächst der individuellen, bewussten Reflexion der letzten Monate und damit verbundenen Wünschen und Erwartungen Raum zu geben und die Teamzusammenarbeit dann gemeinsam neu zu gestalten. Die intensiven Erfahrungen und die dadurch entstandenen Erkenntnisse und Kompetenzen werden damit zur Ressource für zukünftige Anforderungen.
In unseren Trainings zu Mindful (Self-) Leadership gehen wir das Thema explizit an und geben Teilnehmer*innen nicht nur Wissen mit, sondern auch die Möglichkeit, den eigenen, ganz persönlichen Zugang zum Thema und zur Umsetzung im Alltag zu finden. Sie bekommen Trainings- und Umsetzungsmöglichkeiten an die Hand und bauen ihre Selbstführungs-Kompetenzen aus – also etwas, was sie für den Umgang mit stetiger Veränderung dringend benötigen.
Lese- und Hörtipps von Lucia zum Thema:
- Die Deutsche Telekom widmet eine Folge ihres Podcasts „Culture for Breakfast“ dem Thema Achtsamkeit
- Petra Martin beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Leadership und Mindfulness und stellt in diesem Beitrag des Podcasts „Ich-Wir-Alle“ das Programm „MindFriends“ bei Bosch vor
- „55+1 Mindful Practices“ vereint viele Tipps für den Arbeitsalltag, inklusive Poster – Lucia und Desiree von denkmodell haben auch dazu beigetragen