Systemische Zukunftsszenarien in der Beratung
7. November 2011 von Dirk Jung
Zukunftsszenarien und Szenarien im Allgemeinen sind ein bewährtes Instrument der Strategieentwicklung und der politischen Beratung. Aber sie stehen in dem Ruf, kompliziert zu sein – zu Unrecht!
Zugegeben leider entwerfen Forschungseinrichtungen und Think Tanks allzu oft komplexe Zukunftsbilder, deren innere Logik von Leserinnen und Lesern kaum noch nachvollzogen werden kann. In der Beratung hingegen sind solche Szenariotechniken am wirksamsten, an deren Herstellung die Klienten aktiv beteiligt sind. Dieser Artikel skizziert die Grundzüge einer von denkmodell entwickelten Methode, die ihre Wurzeln im systemischen Denken hat und sowohl in Einzelarbeit als auch in moderierter Gruppenarbeit Anwendung findet. Ebenso wichtig wie die Beschreibung der Methode ist die Beschreibung der mentalen Prozesse, die bei den Anwendern ablaufen, während sie mit Hilfe der Szenariotechnik mögliche Zukunftsbilder entwerfen.
Szenario – Was ist das genau?
Beginnen wir damit, was ein Szenario nicht ist. Es ist keine Prognose darüber, wie die Zukunft sein wird. Zwar kann man immer diskutieren, welchem Szenario man die höchste Wahrscheinlichkeit beimisst, das zentrale Anliegen eines Szenarios ist es jedoch zunächst, mögliche Zukunftszustände und die Bedingungen ihres Zustandekommens zu beschreiben. Ein Szenario ist auch keine Vision, denn letztere enthält in starkem Maße das Element des subjektiven Willens (“Wir wollen, dass die Zukunft so sein soll, ungeachtet aller Sachzwänge!”). Ein Szenario ist ebenso wenig gleichzusetzen mit einem Ziel oder einer Planung, es kann jedoch die Vorstufe zu strategischen Entscheidungen bilden, die dann in konkreten Maßnahmen münden.
Szenarien – Wozu sind sie nütze?
In der Beratung und der Strategieentwicklung erfüllen Szenarien vor allem vier Funktionen:
- Sensibilisierung von Entscheidungsträger*innen für die möglichen Konsequenzen ihres Handeln oder Nicht-Handelns,
- Frühzeitige Vorbereitung auf mögliche Entwicklungen in der Zukunft,
- Ableitung konkreter Maßnahmen, um negativen Szenarien aktiv entgegenzuwirken oder sich gegen solche zu schützen,
- Ableitung von Maßnahmen, um das Zustandekommen positiver Szenarien zu fördern.
Der klassische lineare Ansatz
Wer in der Literatur oder im Internet nach dem Stichwort „Szenarien” forscht, findet häufig Varianten der folgenden Graphik, mit der das Vorgehen der klassischen Szenariotechnik illustriert wird.
Die Graphik illustriert die Vorgehensweise:
- Man identifiziert eine Anzahl von Faktoren, von denen man annimmt, dass sie durch ihre möglichen unterschiedlichen „Zustände” die Zukunft des ausgewählten Themas entscheidend beeinflussen, z.B. „Inflationsrate” oder „Anzahl der aktiven Atomkraftwerke in Europa”.
- Für jeden dieser Faktoren werden eine Reihe von möglichen zukünftigen Zuständen definiert, zum Beispiel „Inflationsrate 5%, 3%, 0%“, oder „über 200 Kernkraftwerke, 100–200, unter 100”. Dabei versucht man, innerhalb eines „Wahrscheinlichkeitstrichters” zu bleiben, also nicht völlig absurde Varianten einzubeziehen.
- In einem dritten Schritt werden die Varianten der verschiedenen Faktoren zu möglichen Zukunftsbildern zusammengefasst. Auch hierbei wird nicht beliebig kombiniert, sondern man konzentriert sich auf solche Szenarien, die nach common sense und Expertenmeinung „bedenkenswerte” mögliche Zukunftsentwicklungen darstellen. Häufig beginnt man dabei mit einem „Null-Szenario”, das auf der Kontinuität aller gegenwärtigen Faktorzustände beruht, um danach mehr oder weniger starke Abweichungen davon zu beschreiben.
Der systemische Szenario-Ansatz – Systemische Szenarienentwicklung
Die oben dargestellte lineare Technik weist eine offensichtliche methodische Schwäche auf. Sie stellt nämlich die einzelnen Faktoren des Szenarios unverbunden und ungewichtet nebeneinander. Der systemische Ansatz hingegen verknüpft die Faktoren zu einem einfachen Systemmodell, indem er zunächst ihren wechselseitigen Einfluss aufeinander bewertet und darstellt.
Dabei bedient er sich einer Technik, die unter dem Stichwort „Vernetztes Denken” in den 80iger und 90iger Jahren vor allem von dem bekannten Umweltexperten und Ökonomen Fredric Vester1 entwickelt und propagiert wurde. Dabei wird mit Hilfe einer einfachen Matrix die Einflussstärke jedes ausgewählten Faktors auf alle anderen Faktoren eingeschätzt und grob mit Zahlen zwischen 0 (=kein direkter Einfluss) und 3 (=starker Einfluss) versehen.
Die folgende Grafik zeigt den Aufbau einer solchen Matrix. In ihr können theoretisch beliebig viele Faktoren miteinander verknüpft werden, in der Praxis bildet eine Anzahl von 10–12 Faktoren jedoch schon eine Grenze hinsichtlich Zeitbedarf und Komplexität.
Grafik 2: Beispiel Einflussmatrix
Durch die Matrix kann die Bedeutung jedes Faktors letztlich durch zwei Summen beschrieben werden: Die Aktivsumme kennzeichnet die Gesamtstärke des Einflusses, die ein Faktor im System(modell) ausübt, die Passivsumme gewichtet die Gesamtheit aller Einflüsse, denen ein Faktor im System ausgesetzt ist.
Die Ergebnisse der Matrix werden auf zweifache Weise visualisiert. Zum einen kann mit Hilfe eines Koordinatensystems mit den Achsen „Aktivsumme” und „Passivsumme” der relative Ort jedes Faktors im Verhältnis zu den übrigen Faktoren bestimmt werden. Zum anderen können die Beziehungen zwischen den Faktoren durch Pfeile unterschiedlicher Dicke in einem so genannten „Wirkgefüge” dargestellt und nachvollzogen werden.
Spaziergang im System – Was wäre, wenn…?
Jetzt ist eine Entscheidung darüber möglich, welche der Faktoren als Ausgangspunkte für die Szenarienbildung auszuwählen sind. Es handelt sich dabei in aller Regel um die einflussstärksten Faktoren im System, denn wenn diese ihren Zustand verändern (zum Beispiel Inflationsrate steigt oder sinkt), reagiert der Rest des Systems relativ stark und deutlich. Das Wirkgefüge erlaubt nun einen virtuellen „Spaziergang im System”, indem man die Zustandsänderung eines oder mehrerer solcher Faktoren als Ausgangspunkt annimmt und dann mit Hilfe der Pfeile die Auswirkungen im System einschätzt und entsprechend verbalisiert.
Obwohl es sich hierbei nicht um eine streng wissenschaftliche Analyse handelt, erhält man eine Anleitung zu sehr komplexen Überlegungen und Fragen, zum Beispiel:
- Wie werden die anderen Faktoren voraussichtlich reagieren? Welche direkten und indirekten Effekte sind im System zu erwarten?
- Wo sind Rückkoppelungsschleifen zu erwarten? Welche Dynamik entfalten sie?
- Wo sind Subsysteme zu beobachten mit hoher Eigendynamik?
- Welche Auswirkungen haben die Systemveränderungen auf den Ausgangsfaktor selbst?
Szenarien als komplexe Systemzustände
Auf diese Weise können komplexe zukünftige Systemzustände plausibel beschrieben werden einschließlich der Wirkungsdynamik der beteiligten Faktoren.
Vor allem in politischen Analysen kann noch eine weitere Variante eingesetzt werden, bei der die Veränderung der Einflussstärken selbst zum Gegenstand der Zukunftsüberlegungen wird, d.h. wenn also die Wirkungspfeile in Grafik 2 „dicker” oder „dünner” werden. Diese Variante ist besonders interessant, wenn die Faktoren aus gesellschaftlichen Akteuren bestehen, zum Beispiel politische Parteien und andere Stakeholdergruppen, deren Macht und Einfluss aufeinander in den Szenarien systematisch variiert wird.
Und immer an die Lesenden denken!
Szenarien auf diese Weise herzustellen ist eine Sache, eine andere Sache ist es, sie so zu beschreiben, dass unbeteiligte Dritte sie plausibel finden und sinnlich-konkret nachvollziehen können. Hierzu gehört neben einer eindrücklichen Beschreibung der jeweiligen Systemzustände vor allem auch eine aussagefähige Überschrift, die den jeweiligen Zustand plakativ auf den Punkt bringt.
Beispiel 1: Kompass 2020
Die Friedrich-Ebert-Stiftung realisierte 2007 mit Unterstützung von denkmodell und der hier beschriebenen Methode das Projekt „Kompass 2020”, bei dem im Kontext der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und des Vorsitzes bei der G8 ein Beitrag zur Debatte über Deutschlands Ziele, Rolle und Strategien in den internationalen Beziehungen geleistet werden sollte.
Hierzu wurden unter anderem Szenarien für die strategisch wichtigsten Themen und Regionen der deutschen Außenpolitik erstellt. Alle Texte stehen hier frei zum download zur Verfügung. Sie sind hervorragende Beispiele für eine gelungene Verbalisierung von Szenario-Ergebnissen. Zum Beispiel nennt der Beitrag von Christos Katsioulis & Gero Maaß über die Zukunft der Europäischen Union zunächst explizit die sechs Faktoren seines Systemmodells, nämlich
- das Potential der europäischen Wirtschaft und Gesellschaften, Innovationen hervorzubringen,
- die Interpretation innereuropäischer Solidarität angesichts einer gewachsenen Gemeinschaft mit größeren Unterschieden,
- die Verankerung der EU in ihrer Nachbarschaft,
- die Einbettung Europas in sich verändernde globale Zusammenhänge,
- die Funktionsweise des europäischen Entscheidungssystems,
- die Bereitschaft der Gesellschaften, den Prozess der europäischen Integration mitzutragen.
Anschließend werden diese Faktoren zu drei Zukunftsszenarien variiert und mit sehr einprägsamen Überschriften versehen:
- Szenario: „Außen hui, innen pfui”
- Szenario: „Die Schweiz der Welt”
- Szenario: „Europa à la carte”
Allen, denen Szenariotechnik professionell in der Politikberatung einsetzen möchte, seien die Texte aus „Kompass 2020” als gute Praxis wärmstens ans Herz gelegt.
Beispiel 2: Friede in Jerusalem – systemische Szenarioentwicklung als Gruppenprozess
In den Jahren 2005 – 2006 begleitete denkmodell mit Hilfe der systemischen Szenariotechnik eine Gruppe von israelischen und palästinensischen Stadtentwicklern bei dem Versuch, Szenarien für ein friedliches Zusammenleben in Jerusalem zu entwickeln. Diese sollten zur Sensibilisierung für die Entscheidungsträger in den jeweiligen politischen Lagern eingesetzt werden.
Die systemische Szenariotechnik machte es möglich, die bis zuletzt spürbaren Spannungen zwischen beiden Teilgruppen in konstruktive Bahnen zu lenken:
- Die Methode erlaubte es, dass zu Beginn jede Gruppe alle ihr wichtigen Zukunftsfaktoren, zum Beispiel „Besetzung des Gazastreifens”, in das gemeinsame Systemmodell einbringen konnte. Das Systemmodell ist offen und vermeidet daher gerade in der Anfangsphase belastende Diskussionen darüber, ob ein Faktor „hineingehört” oder nicht.
- Das kleinteilige gemeinsame Durchdenken der Beziehungen zwischen den einzelnen Faktoren in der Einflussmatrix trug erheblich zur Versachlichung und Entideologisierung der Debatte bei.
- Zugleich stellte die Matrix zahlreiche Fragen in den Raum („Wie wirkt A auf B”?), die sich die Beteiligten nach eigener Aussage so noch nie gestellt hatten.
- Die Arbeit mit der Einflussmatrix kann nicht durch Eigeninteressen manipuliert werden. Vielmehr stellt der Moment, in dem die Aktiv- und Passivsummen für jeden Faktor errechnet werden, stets eine Überraschung für alle Beteiligten dar. Politisch überschätzte Faktoren entpuppen sich oft als vernachlässigbare Größen, und manche bisher vernachlässigte Faktoren treten überraschend in den Vordergrund.
- Und das Wichtigste: Das auf diese Weise erstellte Systemmodell ist eine gemeinsame Wirklichkeitskonstruktion, in der sich alle Teilnehmer wiederfinden können und die eine gemeinsame Ausgangsbasis für alle weiteren strategischen Überlegungen bildet.
Insbesondere der letzte Punkt führte dazu, dass die beiden Gruppen nach einem Jahr gemeinsamer Arbeit dazu in der Lage waren, eine gemeinsame Vision für die Zukunft Jerusalems zu entwickeln – zu Beginn des Prozesses hatten beide Seiten noch diese Möglichkeit wegen politischer Differenzen als völlig unrealistisch bezeichnet.
1 Siehe Neuland des Denkens – Vom technokratischen zum kybernetischen Zeitalter, dtv, München 1984⁄2002