Agile Organisationen – Plädoyer für eine Differenzierung
9. September 2016 von Dirk Jung
Mein Philosophielehrer in der Oberstufe hat mir einen goldenen Satz mit auf den Weg gegeben: „Intelligenz ist die Fähigkeit, zu differenzieren“. Warum ich das erwähne? Weil es das Defizit beschreibt, das ich in der aktuellen Diskussion um die Begriffe Agilität oder agiles Management vielfach beobachte. Agilität ist ein interessanter und mutiger Versuch, die Arbeit anders zu organisieren als bisher, und er ist gegenwärtig leider in Gefahr, durch modische Übernutzung banalisiert und überdehnt zu werden.
Das Konzept der agilen Organisation wurde in Fachkreisen schon in den 1990er Jahren diskutiert und zunächst in der IT-Branche und der Softwareentwicklung angewendet. Es handelt sich dabei nicht um ein elaboriertes theoretisches Konzept, sondern schlicht um „die Fähigkeit eines Unternehmens, sich kontinuierlich an seine komplexe, turbulente und unsichere Umwelt anzupassen“ (Goldman et al. 1995). Auf welche Weise dieses Ziel erreicht werden kann, ist ein erfreulich offenes Experimentierfeld. Spätestens mit dem empfehlenswerten Buch „Reinventing organizations“ von Frederic Laloux (dt. Ausgabe 2015) bekam die Debatte hierzu neuen Schwung.
In der aktuellen Diskussion um die Verbesserung der organisationalen Agilität stehen Begriffe wie „flache Hierarchien“, „Demokratisierung der Produktion“, „offene Kommunikation“, „wechselnde Teams“, „Iterationsschleifen“, „Selbstorganisation“ oder „katalytische Führung“ hoch im Kurs. Seriöse Autorinnen und Autoren berichten einerseits von beachtlichen Erfolgen hinsichtlich Mitarbeitermotivation, Innovationskraft und Eigenverantwortung. Sie berichten aber auch über die Abwanderung von aufstiegsorientierten Führungskräften und Reibungsverlusten durch Disziplinlosigkeit, Teamkonflikte und hohen Abstimmungsbedarf.
Agilität for Dummies?
Ein besonders krasses Beispiel für den marktschreierischen Umgang mancher „Berater“ mit dem vielschichtigen Begriff der Agilität konnte ich unlängst in der ansonsten von mir geschätzten Zeitschrift brand eins und ihrer Ausgabe vom Juni 2016 mit dem Schwerpunkt Agile Methoden finden. Dort verkündet der Autor Roald Musbach, CEO eines Beratungsunternehmens mit dem klangvollen Beinamen „Managementberatung für Strategie und KulturTransformation“, apodiktisch: „Die Zeit der Management-Pyramiden ist vorbei!“!
Die Organisationswelt wird von ihm pauschal in „vorher“ und „nachher“ aufgeteilt. Vorher: „Archaisch-verstaubte Organisations-Architektur“, in der „die Wege von unten nach oben oder oben nach unten (…) von geschlossenen Türen oder zickigen Assistentinnen versperrt“ werden. Nachher: „Expertenteams innerhalb flacher Hierarchien (geben) mit basisdemokratischen und agilen Strukturen den Ton an“. So einfach ist das offenbar.
Abgesehen davon, dass der Autor dringend über sein archaisch-verstaubtes Frauenbild nachdenken sollte, ist seine Darstellung an Plattheit kaum zu überbieten und dazu geeignet, Enttäuschungen über die wirklichen Chancen und Möglichkeiten agiler Organisationsstrukturen vorzuprogrammieren.
So scheint die Sorge eines der Autoren des berühmten „Agilen Manifests“ von 2001, Dave Thomas, nachvollziehbar, dass das „Wort ‚agile‘ inzwischen bis zur Bedeutungslosigkeit verdorben (ist), und was als Agile-Community gilt, inzwischen vor allem eine Arena für Berater und Verkäufer (ist), die ihre Dienstleistungen und Produkte verhökern.“
Ganz so schwarz sehen wir die Sache allerdings nicht. Denn es gibt auch eine Gegenbewegung – Differenzierung statt Simplifizierung!
Die Kunst des Unterschieds
Jetzt kommt mein Philosophielehrer wieder ins Spiel. Es gibt gottseidank noch Autoren, die mit Gelassenheit und Realitätssinn über Agilität sprechen. Einer davon ist Jens Coldewey, Münchner Geschäftsführer der it-agile GmbH, der sich seit 1998 mit agilen Verfahren beschäftigt. Jens Coldewey war bereits 2003 Vorstandsmitglied der Agile Alliance, einer weltweiten Organisation zur Förderung der Agilität in Unternehmen. Mit anderen Worten – er weiß, wovon er redet.
Coldewey stellt in einem seiner Aufsätze die einzig richtige Frage, nämlich in welcher Branche, in welchem Produktions- und Geschäftsbereich welches Maß an Agilität sinnvoll ist: „Schließlich stellt sich auch immer wieder die Frage, ob wirklich ein kompletter Großkonzern – vom Pförtner bis zur Küchenhilfe – agilisiert sein muss, damit dieser Agilität erfolgreich nutzen kann.“
Und er gibt auch eine Antwort darauf:
„Für das Entwicklungsteam eines Softwareprodukts kann es eine ziemlich gute Idee sein, geschützte Zeitintervalle einzuführen, in denen keine Änderungen von außen kommen. Für ein Wartungsteam, das nebenbei auch noch die Produktion sicherstellen muss, wäre das eine ausgesprochen dumme Idee. „Warten Sie bitte bis zur nächsten Sprint-Planung“, ist sicher nicht die Aussage, die das Betriebspersonal bei einem Produktionsstillstand hören möchte, wenn pro Tag zweistellige Millionenbeträge verloren gehen.“
Ähnlich argumentiert Ayelt Komus in der Juni-Ausgabe von brand eins. Er betont, dass nicht jedes Produkt für agile Methoden geeignet ist: „Mit Software lässt sich das einfacher machen. Da können Sie jederzeit eine neue Version erstellen. Wenn bei einer Autobahnbrücke mal die ersten Pfeiler stehen, wird es schwieriger.“ Diese Differenzierung empfiehlt er auch für Prozesse. Er glaubt, dass „bei Prozessen, die ich sehr gut im Griff habe, die also eine sehr hohe Prozessreife besitzen, (es sich) nicht unbedingt immer lohnt, mit agilen Methoden vorzugehen.“
Ich kann Coldeweys Aufsatz, aus dem seine obigen Zitate stammen, übrigens nur empfehlen. Zumal dort auch alte, scheinbar aus der Mode gekommene Konzepte wieder auftauchen: systemisches Denken, lernende Organisation und ganzheitliches Management. Auf solchen Autoren und Berater wie Jens Coldewey gründet meine Hoffnung, dass die frischen Ideen von „Agility“ sinnvoll eingesetzt werden und nachhaltige Wirkung erzeugen können.
In unserer Beratungsarbeit bei denkmodell halten wir es ähnlich wie Coldewey, was unsere Kunden gelegentlich ein wenig irritiert. Möchten die Kunden einen „Teambildungsworkshop“, so müssen sie sich oft die Frage gefallen lassen „Wozu brauchen Sie überhaupt ein Team? Genügt nicht auch eine normale Gruppe, die ordentlich ihre Arbeit tut?“. Und wir hören aufmerksam zu, wenn diese Frage beantwortet wird, denn sie bildet die Basis unseres Auftragsverständnisses. Ähnliches gilt für Innovationsworkshops mit der Design Thinking Methode: Erfordert das Ausgangsproblem wirklich einen innovativen Sprung oder kann nicht auch vorhandenes Expertenwissen die Angelegenheit regeln?
Und so halten wir es auch bei dem Kundennwunsch nach Agilitätsberatung – Wozu? In welchem Maß? In welcher Form? Die gemeinsame Diskussion dieser Fragen legt den Grundstein für eine wirkungsvolle – weil differenzierte – Agilitätsberatung. Es ist uns wichtig, zusammen mit dem Kunden zu analysieren, welche Organisationsleistungen agile, kreative und selbstorganisierte Teams nahelegen, und wo sie eher kontinuierliche und wiederholbare Prozesse erfordern.
Mein alter Philosophielehrer hätte sich gefreut.
Klicken Sie hier, wenn Sie mehr über den Autor Dirk Jung erfahren wollen und hier, wenn Sie sich für unseren Beratungsansatz interessieren.