„Es geht erstmal ums Verlernen“
29. Januar 2025 von Leonie Martin
Anna Schulte und Marcus Quinlivan sind Ausbilder*innen unserer berufsbegleitenden „Ausbildung Beratung und Organisationsentwicklung“ bei denkmodell. Im Interview erzählen sie aus ihrer Beratungspraxis, was die Ausbildung bei denkmodell besonders macht und wozu genau sie qualifiziert.
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Anna, Marcus, ihr seid nicht nur Ausbilder*innen, ihr seid auch selbst Organisationsentwickler*innen. Wie genau sieht euer Beratungsalltag aus?
Marcus: Wichtig ist mir im ersten Schritt eine Abgrenzung, wenn wir das Wort “Beratung” nutzen. Ich verstehe mich als Berater – zugleich sind wir aber keine Unternehmensberater*innen. Wir kommen nicht mit fertigen Lösungen für ein Problem. Das ist wichtig. Denn die gute Lösung kommt immer von innen, aus der Organisation selbst. Wir helfen Unternehmen und Organisationen dabei, sie zu finden.
Anna: Da stimme ich sehr zu. Damit liegt unsere Aufgabe gerade zu Beginn einer Beratung vor allem darin, die richtigen Fragen zu stellen. So machen wir implizites Wissen explizit, und die Menschen in den Organisationen bekommen neue Perspektiven auf ihr Problem. Damit helfen wir ihnen, den ersten Schritt zu tun – und sind danach als Begleiter*innen im weiteren Lösungsprozess dabei. Das ist für mich ebenfalls Beratung – aber schon deutlich anders, als es vielfach in der “klassischen Unternehmensberatung” verstanden wird.
„Unsere Aufgabe besteht vor allem darin, die richtigen Fragen zu stellen.“
Anna Schulte
Mit welchen Problemen kommen Organisationen typischerweise auf euch zu?
Marcus: Oft haben Kunden gar kein klares Bild, was das Problem ist, sie merken nur, dass es eines gibt: In der Organisation klemmt etwas, es läuft einfach nicht. Typische Anlässe sind dann hohe Fluktuation oder Konflikte zwischen Kernbereichen einer Organisation. Natürlich gibt es oft schon Problemhypothesen und auch Vorstellungen zur Lösung. Zum Beispiel: Das Problem liegt im Team, wir brauchen einen Team-Workshop! Oder aber: Herr X und Frau Y sollten mal eine Mediation machen, die kommen nicht miteinander klar und brauchen Unterstützung.
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Anna: Und da hören wir dann rein, fragen nach und gehen den Ursachen gemeinsam mit den Kund*innen auf den Grund. Und bereits diese Beschäftigung, das Gespräch, das offene – durchaus auch forsche – Fragen und Zuhören sind erste Schritte zur Lösung. Ohne die Lösung vorzugeben! Das Beispiel von Marcus begegnet mir häufig: Organisationen suchen die Ursache von Problemen bei den Menschen und den Beziehungen zwischen ihnen. Das ist systemisch gesehen aber sehr selten der Fall – meist haben die Akteur*innen gute Gründe für ihr Verhalten und es liegt dann an uns, diese Gründe gemeinsam zu erkennen. So werden aus Beziehungskonflikten häufig Zielkonflikte – die nicht menschlich gelöst, sondern mit Bezug zur Wertschöpfung der Organisation entschieden werden müssen. Das sind spannende Prozesse.
Dann ist es ja eigentlich ganz einfach, Organisationsentwickler*in zu sein. Fragen kann schließlich jede und jeder. Wofür dann extra eine Ausbildung?
Anna: In der Ausbildung geht es erstmal vor allem darum, zu verlernen:
1. Ich muss lernen, den Autopiloten auszuschalten, der immer direkt mit einer Lösung kommen will. Ich muss offen fragen können und zuhören.
2. Ich muss lernen, nicht voreilig Schlüsse zu ziehen, sondern in jeder Situation wieder neugierig und offen hinzuhören.
3. Ich muss wissen, wann ich meine eigene Erfahrung einbringe (und entsprechend auch Vorschläge für gute Lösungen mache) und wann ich mich damit zurückhalte. Das kann man nach etwa einem Jahr Ausbildung. In der zweiten Hälfte geht es bei uns dann sehr um die praktische Anwendung und Vertiefung in unterschiedlichen Feldern der Organisationsentwicklung – unter anderem in supervidierten Lernprojekten und einer Organisationsdiagnose bei Berliner Organisationen.
Marcus: Als ich selbst damals meine Ausbildung gemacht habe, habe ich gedacht: Super, jetzt bekomme ich eine Checkliste, die kann ich abhaken und dann weiß ich, was der Weg zur Lösung ist. Aber genau darum geht es nicht. Denn der Weg zur Lösung ist immer individuell. Deshalb lernt man als Erstes, eine kritische Distanz zu den eigenen Vorstellungen zu bekommen, wie eine gute Organisation auszusehen hat.
„Wir sind keine Unternehmensberater*innen. Wir kommen nicht mit fertigen Lösungen für ein Problem.“
Marcus Quinlivan
Was unterscheidet die Ausbildung bei denkmodell von anderen Anbietern?
Anna: Zum einen ist besonders, dass wir den systemischen mit dem Gestaltansatz verbinden. Das systemische Denken ist uns sehr wichtig und wir kombinieren es mit einem ganzheitlichen Blick auf die Menschen in einer Organisation und einem sehr vertieften Verständnis von Veränderungsdynamiken und dem Umgang mit Widerstand. Zum anderen spiegeln uns Teilnehmer*innen immer wieder, wie gut das praxisnahe Lernen an der eigenen Person und an echten Fällen ist. Wir laden Kund*innen ein, arbeiten an Fallbeispielen – auch an Fällen der Teilnehmer*innen.
Marcus: Man kann Organisationsentwicklung sogar studieren. Aber dann ist das eine reine Beschäftigung im Kopf. Bei uns kommen die Arbeit an der eigenen Person und das Bewusstsein dafür hinzu. Haltung ist das Stichwort. Werkzeuge und Methoden kann man auch woanders lernen, bei uns lernt man: Was hilft wann und wie passt es wo am besten rein? Und dann gibt es Ausbildungen, da wird quasi die ganze Zeit reflektiert. Aber da stellt sich dann irgendwann die Frage: Was mache ich jetzt damit? Was brauche ich, um das auch für den Kunden praktisch nutzbar zu machen? Wir halten die Balance zwischen alldem.
An wen richtet sich die Ausbildung? Wer kann teilnehmen?
Anna: Ich würde sagen, ein gewisses Maß an (Lebens-)Erfahrung ist nötig, damit die Ausbildung wirksam sein kann. Das macht sich nicht unbedingt am Alter fest – aber das klassische Altersspektrum in der Ausbildung ist von Anfang 30 bis Ende 50. Von der Profession her kommen die Leute aus ganz unterschiedlichen Richtungen. Da ist zum Beispiel die Fachberaterin, die merkt: Ich bekomme mein Wissen zwar vermittelt, aber die Umsetzung versackt immer wieder. Und daran was ändern möchte. Oder der Coach, der nicht „nur“ mit Einzelpersonen arbeiten möchte, sondern Teams und Organisationen beraten. Oft sind es auch Führungskräfte, die Veränderung vorantreiben wollen. Zunehmend fragen auch Personaler*innen an, weil innerhalb der Organisation Expertise aufgebaut werden soll, um Prozesse zu begleiten und zu verankern.
Marcus: Allen gemeinsam ist das Veränderungsanliegen. Die Führungskraft will zum Beispiel Wirkung entfalten und dabei an eigene Erfahrung anknüpfen, oder es gibt die Draufsattlerinnen und Umsteiger. In der Regel erweitern die Teilnehmenden durch die Ausbildung die eigene fachliche Expertise und entwickeln sich weiter.
„Man muss bereit sein, eigene Erfahrungen und Wahrnehmungen zu reflektieren. Sich öffnen, das ist eine Grundvoraussetzung.“
Marcus Quinlivan
Was muss man mitbringen, um die Ausbildung zu machen?
Anna: Durst, dazuzulernen! Aber nicht, indem man einfach nur noch ein Training mehr macht, sondern indem man tief eintaucht und gefordert wird. Gerade die Gruppendynamik führt dazu, dass Menschen sich nochmal intensiv erleben und gespiegelt werden. Und Lust, mich mir selbst zu stellen, zu wachsen und mich gemeinsam mit der Gruppe auf den Lernprozess einzulassen.
Marcus: Ja, man muss bereit sein, eigene Erfahrungen und Wahrnehmungen zu reflektieren und auch Einblicke zulassen. Sich öffnen, das ist eine Grundvoraussetzung. Was Teilnehmende uns immer wieder sagen, ist, dass es gelingt, einen sicheren und reichen Lernraum zu kreieren, in dem alle von den unterschiedlichen Erfahrungen, Hintergründen und Perspektiven aller profitieren können. Das ist auch für uns immer wieder wertvoll zu erleben.
Und was kann man „werden“, wenn man die Ausbildung gemacht hat?
Anna: Zum einen gibt es innerhalb von Unternehmen immer mehr Abteilungen für Unternehmensentwicklung, Change und Co – ob innerhalb von HR oder als Stabsstelle. Zum anderen gibt es bereits genannte Fachberater*innen, Coaches oder Führungskräfte, die neue Perspektiven entdecken und Dinge anders machen möchten. Die Wege unserer Absolvent*innen sind wirklich sehr unterschiedlich. Einige machen sich noch in der Ausbildung selbstständig – andere bleiben in ihren Jobs und füllen sie anders aus.
Marcus: Und dann kann man natürlich auch als angestellte Beraterin oder angestellter Berater arbeiten. Oder aber frei, dann aber häufig angeschlossen an eine Beratung. Bei denkmodell gibt es all diese Arbeitsformen unter den Beratenden. Ausgründungen gibt es auch relativ häufig.
Zu guter Letzt die Frage an euch: Was macht euch besonders Spaß an der Ausbildung?
Marcus: Die Teilnehmenden haben anfangs sehr die Probleme im Blick, die sie lösen möchten. Wir füttern dann über zwei Jahre Sachen rein, Methoden etc., die oft erstmal überfordern – und bieten damit neue Herangehensweisen an Dinge, von denen sie dachten, dass sie sie schon können. Zum Beispiel das richtige Fragen. Anfangs fühlt sich das Üben dieser Methoden für die Teilnehmenden noch sehr künstlich an. Und dann wird das immer natürlicher, selbstverständlicher. Und wird eine echte Hilfe für die Kunden.
Anna: Es ist einfach ein totales Privileg, 20 Menschen zu begleiten und zu sehen, wie sie sich individuell und als Gruppe entwickeln, wie sich Reflexion und Bewusstsein verändern. Da machen sich Menschen auf den Weg, kommen aus ihrer Komfortzone, lassen festgefahrene Glaubenssätze gehen, entdecken völlig neue Perspektiven. Die Gruppe ist dafür auch enorm wichtig, der geschützte Raum. Wir bringen die Gruppe in Kontakt – laden ein, sich gegenseitig zu fordern. Und so einen Raum zu bilden, das ist wirklich schön.