Für alle das Beste: Verhandeln mit der Harvard-Methode
15. Mai 2023 von Kirsten Mieves
Zwei Dinge prägen jede Verhandlung:
1. gemeinsame Interessen der Parteien
2. gegeneinanderstehende Interessen der Parteien
Hört sich nach einer simplen Erkenntnis an? Ist es auch. Genauso wie der Schluss, der daraus folgt: Zu einem guten Verhandlungsergebnis braucht es vor allem Kooperation. Das Problem dabei: Die meisten Verhandler*innen fokussieren sich (fast) nur auf den eigenen Nutzen. So bleiben Gewinne auf dem Verhandlungstisch liegen. Und zwar auf beiden Seiten.
Der Grund dafür sind irrationale Verhaltensweisen, die unterbewusst ins Spiel kommen. Sie hindern uns oft, die objektiv beste Lösung für ein Problem zu finden.
In der Verhandlungspraxis werden vor allem diese Faktoren zur Falle:
- Wir sind stärker davon getrieben, Verluste zu vermeiden, als Gewinne zu erzielen. Die Folge: ein sehr kompetitiver Verhandlungsstil.
- Oft nehmen wir irrtümlich an, die Verhandlungsmasse (der Kuchen) sei begrenzt. Mögliche integrative Lösungen (den Kuchen vergrößern) übersehen wir.
- Wir neigen dazu, an DIE EINE richtige Lösung zu glauben – vor allem, wenn wir sie selbst entwickelt haben. Das behindert den Blick auf bessere andere Lösungen.
- Die Perspektive der Gegenseite bleibt oft unterbelichtet. Wir sind stark auf uns und un-sere Sichtweise fokussiert und übersehen mögliche Anknüpfungspunkte.
- Wir lassen uns leicht von sogenannten Wahrnehmungsankern beeinflussen. Ist eine Zahl oder eine konkrete Position erst einmal im Raum, neigen wir dazu, rund um die-sen „Anker“ zu argumentieren, statt weiterhin freier zu denken.
All diese Phänomene führen dazu, dass wir in Verhandlungssituationen oft viele Möglichkeiten ungenutzt lassen – und letztlich „Geld auf dem Tisch liegen lassen“. Selbst, wenn wir in der stärkeren Verhandlungsposition sind, steigen wir oft schlechter aus, als hätten wir diese Fallen erkannt und vermieden.
Die Lösung: das Harvard-Konzept des interessenbasierten Verhandelns.
Lösung Harvard-Konzept
Die Harvard-Professoren William Ury und Roger Fisher entwickelten in den 1970-er Jahren das Harvard-Konzept des sachorientierten Verhandelns. Anlass waren die Camp-David-Verhandlungen zwischen Israel und Ägypten. Das Ziel: festgefahrene Verhandlungen beleben und neue Lösungsalternativen entwickeln.
Zentral beim Harvard-Konzept ist: Es geht nicht darum, Kompromisse zu finden. Denn der Kompromiss wird häufig aus dem Mittelwert zweier Extrempositionen gebildet. Das Harvard-Konzept hingegen setzt darauf, neue und oft kreative Lösungen zu entwickeln. Sie sind der Schlüssel: Das Konzept hilft nicht nur dabei, das optimale Ergebnis zu erzielen; es stellt auch sicher, dass die Beziehung zum*r Verhandlungspartner*in erhalten und gepflegt, zumindest aber nicht beschädigt wird.
Ein häufiges Missverständnis ist übrigens, dass das Harvard-Konzept ein „weicher“ Verhandlungsstil sei. Das ist falsch. Wer nach Harvard verhandelt, verhandelt hart in der Sache und verhält sich trotzdem fair gegenüber anderen Verhandlungsparteien. Wie das geht, schauen wir uns im Folgenden anhand der vier Prinzipien des Harvard-Konzepts an.
Die vier Prinzipien des Harvard-Konzepts
Harvard-Prinzip 1: „Den Menschen vom Problem trennen“
Verhandlungspartner*innen sind in erster Linie Menschen – mit menschlichen Bedürfnissen. Daher ist es wichtig, die persönliche Beziehung von der Sachfrage zu trennen – und beides mit der jeweils angemessenen Sorgfalt zu behandeln. „Be soft on the people, but hard on the issue.“
Doch wie macht man das?
Indem man zunächst versteht, wo Schwierigkeiten zwischen den beteiligten Personen entstehen können – und ihnen begegnet. Herausforderungen gibt es vor allem auf drei Ebenen: auf der Wahrnehmungs‑, Gefühls- und Kommunikationsebene.
Die Wahrnehmungsebene
Oft passiert es, dass die Verhandler*innen ihr Gegenüber gar nicht richtig wahrnehmen, sondern nur die eigenen Bedürfnisse und Positionen sehen. Keine gute Basis. Die Lösung liegt in diesen drei Punkten:
- Versetzen Sie sich in die Lage des anderen.
- Schließen Sie nicht von Ihren Befürchtungen auf die Absichten anderer.
- Machen Sie die gegenseitige Wahrnehmung zum Verhandlungsthema, falls notwendig; und suchen Sie nach Gelegenheiten, die Wahrnehmung der anderen Seite in Bewegung zu bringen.
Die Gefühlsebene
Auch Gefühle sind menschlich und spielen eine Rolle am Verhandlungstisch. Vielleicht sind wir genervt, wenn es nicht so läuft, wie wir wollen. Oder verärgert, wenn sich das Gespräch in eine Richtung bewegt, die uns nicht passt. Mit diesen Gefühlen müssen wir umgehen, damit sie das Geschehen nicht beherrschen. Am besten wie folgt:
- Versuchen Sie zunächst, Ihre eigenen Gefühle zu verstehen und dann die Ihrer Partner*innen.
- Akzeptieren Sie diese Gefühle als legitim (und sprechen Sie die emotionale Ebene an, wenn sinnvoll bzw. nötig).
- Gestehen Sie der anderen Seite ein, Dampf abzulassen.
- Reagieren Sie nicht direkt auf Gefühlsausbrüche der anderen Seite, und erst recht nicht in gleicher Weise.
Die Kommunikationsebene
Die Verhandlungspartner*innen reden nicht wirklich und klar miteinander, hören sich nicht zu und letztlich ist ihnen auch egal, ob der andere sie versteht. Es kommt zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen. Typische Probleme auf der Kommunikationsebene.
So begegnen Sie ihnen:
- Sprechen Sie klar aus, was Sie meinen – nur so werden Sie verstanden.
- Hören Sie aktiv zu und geben Sie dem anderen Rückmeldung über das, was Sie verstanden haben.
- Sprechen Sie über sich selbst – nicht über den anderen.
Harvard-Prinzip 2: „Auf Interessen konzentrieren – nicht auf Positionen“
Hinter gegensätzlichen Verhandlungspositionen können sowohl gemeinsame als auch gegensätzliche Interessen liegen: Interessen sind mehr-dimensional, Positionen ein-dimensional. Oder anders ausgedrückt: „Your position is what you say you want. Your interest is what you really need.“ Und es ist ratsam, den Fokus von der eigenen Position abzuwenden und stattdessen den Blick auf die Interessen beider Seiten zu richten. Die stärksten Interessen sind die fünf menschlichen Grundbedürfnisse: Selbstbestimmung, Ansehen, Anerkanntsein, Zugehörigkeit, Sicherheit.
So verhandeln Sie auf der Basis dieser Interessen:
- Denken Sie über die Motive der anderen Seite nach. Was wollen die wirklich?
- Machen Sie sich klar, dass jede Seite eine Vielzahl von Interessen hat – das erweitert den Verhandlungsspielraum.
- Machen Sie der anderen Seite Ihre Interessen deutlich – so konkret wie möglich.
- Zeigen Sie der anderen Seite, dass die Verwirklichung ihrer Interessen auch Teil Ihres Anliegens ist.
Harvard-Prinzip 3: „Lösungsoptionen zum Vorteil beider Seiten entwickeln“
Am besten läuft eine Verhandlung, wenn das Ergebnis beiden Seiten gefällt und bestmöglich nützt. Daher ist es für den Verhandlungsverlauf wichtig, Optionen zu entwickeln, die nicht nur einer – nämlich meiner – Seite nützen, sondern auch für die andere Seite von Vorteil sind. Dabei hilft:
- Trennen Sie die Entwicklung von Optionen von der Entscheidung darüber. Das erlaubt, gemeinsam konstruktiv an der Lösung zu arbeiten.
- Untersuchen Sie genau die voneinander abweichenden Interessen und identifizieren Sie gemeinsame Interessen.
- Seien Sie kreativ bei der Entwicklung von Lösungsoptionen, auch zugunsten Ihres Gegenübers – er*sie wird Ihnen dann in anderen Bereichen wohlgesinnt sein.
- Entwickeln Sie Optionen unterschiedlicher Verbindlichkeitsgrade.
Harvard-Prinzip 4: „Objektive Kriterien entwickeln und anwenden“
Objektive Kriterien sind faktische Informationen, die den Parteien helfen, die Verhandlungsergebnisse unabhängig von der eigenen Sichtweise zu beurteilen – und somit im Lichte des besten Ergebnisses für alle.
Das ist wichtig, wenn Sie objektive Kriterien nutzen:
Nachprüfbarkeit
Ob die Parteien die Verhandlungsergebnisse erfüllen, müssen beiden Parteien durch objektive Kriterien nachprüfen können.
Gemeinsame Festlegung
Legen Sie gemeinsam mit allen Parteien objektive Standards für die Kriterien fest – das schafft eine Atmosphäre von Fairness und Kooperation.
Gemeinsame Suche
Wenn nötig, schlagen Sie explizit vor, die für Ihre Verhandlung relevanten objektiven Beurteilungskriterien erstmal gemeinsam zu identifizieren.
Offene Diskussion über Kriterien
Seien Sie bereit, offen über diese Kriterien zu diskutieren.
Konsequente Anwendung
Berufen Sie sich auch bei Druck der Gegenseite immer wieder auf diese objektiven Kriterien.
Wenn Sie die vier Prinzipien der Harvard-Methode beherzigen, sind Sie vor den typischen Verhandlungsfallen gewappnet – und auf einem guten Weg zum besten Ergebnis für alle Beteiligten. Ohne Kompromisse und ohne dass Gewinne auf dem Tisch liegenbleiben.
Sie wollen wissen, wie Sie das Harvard-Konzept bestmöglich in Ihrem Verhandlungsalltag nutzen – sei es bei Verhandlungen übers Gehalt, mit Kund*innen oder anderen Geschäftspartner*innen? Dann besuchen Sie das Training „Besser verhandeln mit der Harvard-Methode“ bei unseren Verhandlungsexperten David Koschel und Rupert Prossinagg.
Mehr Informationen und die Anmeldung finden Sie hier: https://denkmodell.de/academy/termin/besser-verhandeln-mit-der-harvard-methode/